Sumerki - Daemmerung Roman
Stunde, doch der Himmel blieb schwarzgrau, schmutzig und undurchdringlich wie bisher. Ich brauchte keine Interpretationen mehr, Jagoniel hatte alles geklärt. Auch wenn der schmerzhafte Krampfanfall der Welt nachgelassen hatte, so bedeutete dies noch nicht, dass das Urteil aufgehoben war. Im Gegenteil. Ich musste daran denken, wie schlaff der Körper eines auf dem elektrischen Stuhl Hingerichteten in sich zusammensackt, sobald der Strom ausgeschaltet wird.
Nun denn … Mir blieb nur noch eines.
Auf meinen letzten Weg bereitete ich mich gründlich vor wie auf eine Expedition zum Nordpol. Eine Thermoskanne mit Tee, warme Anziehsachen, einen Kugelschreiber und einen Stoß sauberes Papier, zwei Packungen Stearinkerzen und eine Glasglocke zum Schutz vor dem Wind. Ach ja, ein zusätzlicher Pullover war sicher nicht schlecht - da oben war es jetzt wahrscheinlich ziemlich windig …
Während ich die Treppe in den neunten Stock hinaufstieg, horchte ich an den Türen einiger Nachbarwohnungen. Überall war es still; nur zweimal hörte ich gedämpfte Stimmen im Wechsel mit unterdrücktem Weinen von Kindern. Die düstere Feierlichkeit dieser Minuten empfand nicht nur ich: Die Menschen wagten es nicht, laut zu sprechen und den Schutz ihrer vier Wände zu verlassen, denn sie spürten die Präsenz der Dämonen, die in der äußeren Welt auf sie lauerten. Ich dagegen fürchtete sie nicht: Was bedeutete schon eine Begegnung mit Geistern im Vergleich zu dem, was der ganzen Welt in den nächsten Stunden bevorstand?
Schloss und Siegel der Miliz, die den Zugang zum Dach versperrten, brach ich mit Leichtigkeit auf. Die meisten Gesetze und Regeln, die zu gewöhnlichen Zeiten von Bedeutung sind, verlieren am Vorabend der Apokalypse jeglichen Sinn. Der Wind der Ewigkeit reißt dem Menschen das Gewand aus gesellschaftlichen Konventionen herunter, den ganzen Schorf der Zivilisation und lässt ihn in seinem ursprünglichen Zustand zurück, nackt und schutzlos - allein mit sich und der Welt, Auge in Auge mit den Göttern und dem Tod.
Zu meiner Überraschung war es auf dem Dach gar nicht so kalt. Dichte, graue Wolkenfetzen hingen reglos und schwer am Himmel, als hätte man sie mit Öl auf eine schwarze Leinwand gemalt. Der göttliche Atem, der sie für gewöhnlich mitriss und fortjagte, schien erschöpft zu sein. Es war, als stünde ich tatsächlich vor einem toten Gemälde.
Ich blickte mich um.
Anders als vor ein paar Jahrzehnten verschafft einem ein neunstöckiges Gebäude aus der Stalinzeit im heutigen, mit Wachstumshormonen gedopten Moskau nicht mehr den Eindruck herrschaftlicher Höhe. Doch Jagoniel schrieb eindeutig vor, dass jeder, der den Weltuntergang erblicken wolle, sich auf dem Dach seines eigenen Hauses einzufinden habe. Und ich würde nicht mit Ritualen brechen, die sich seit Jahrtausenden bewährt hatten. Außerdem war die Aussicht über die Stadt von hier gar nicht schlecht.
Fast das ganze Moskau war ohne Strom, nur an einigen Stellen, wo die Gebäude offenbar über eigene Generatoren verfügten, flackerten elektrische Oasen. Zähe Dunkelheit umspülte träge die Felsen der Häuser am Arbat, trieb ohne Hast durch das tote Flussbett des zerklüfteten Gartenrings und verdichtete sich am Fuße der Stalin-Hochhäuser, die wie groteske Hochzeitstorten herausragten. Irgendwo wuselten Autos wie Glühwürmchen durcheinander, stießen chaotisch gegen von hier oben nicht erkennbare Hindernisse und versuchten über den aufgeworfenen Asphalt hinweg vorwärtszukommen.
Ich setzte mich an den Rand des Daches, ließ die Beine herabhängen und blickte nach Osten. Sicher war es schon Mittag, doch der Horizont war noch immer leer und schwarz
wie in einer mondlosen Nacht. Ob ich den Aufgang noch erleben würde? Auch für die yukatanischen Indianer, die einmal im halben Jahrhundert mit der gleichen Ungeduld die Erscheinung des geschwächten Ah Kin am Himmel erwarteten, dehnte sich sicherlich jede Sekunde um ein Vielfaches in die Länge, so dass ihnen das Warten schier endlos vorkam.
Ich weiß, dass das Ende unabwendbar ist. Alle Vorzeichen des Armageddon sind mir erschienen, und ich bin überzeugt, dass ich sie richtig interpretiert habe. Nun muss ich nur noch auf den letzten, abschließenden Schlag warten, der die Himmel auf die Erde herabstürzen lässt und alle Menschen ohne Ausnahme mit allem, was sie geschaffen haben, einschließlich der Erinnerung an sie, vernichtet und die Zeit anhält.
Ich weiß, dass der sterbende Gott, mag er
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