Sumerki - Daemmerung Roman
nicht, wie viel Zeit mir noch blieb, um meine irdischen Dinge abzuschließen. Doch eine Angelegenheit gab es, die keinen Aufschub duldete. Ich hatte das erste Kapitel des Tagebuchs. Ebenjenes Kapitel, dessentwegen mein unglücklicher Vorgänger von Ungeheuern verschlungen worden war, vielleicht weil er die bemalte Fassade des Weltgebildes betrachtet und erkannt hatte, dass der Putz bereits herabrieselte. Dass er hatte sterben müssen, bedeutete laut Knorosows Traumbuch, dass die Informationen in diesem Kapitel von außerordentlicher Wichtigkeit waren. Der Mitarbeiter aus dem Übersetzerbüro hatte einen weitaus größeren Teil des Buches ungestraft lesen können, bevor ihn dasselbe Schicksal ereilte. Wahrscheinlich waren die ersten Seiten des Tagebuchs von größerer Bedeutung als sämtliche mittleren Kapitel zusammengenommen.
In meiner Wohnung war der Strom ausgefallen, so dass ich mir meinen Kaffee bei Kerzenlicht kochen musste. Mit klappernder Untertasse ging ich in mein Zimmer, platzierte den Kerzenständer vorsichtig auf dem Schreibtisch und öffnete ehrfürchtig die Ledermappe. Wie oft hatte ich mir ausgemalt, was auf den verlorenen Seiten stand, die mit der bedeutungsschweren Überschrift Capítulo I begannen … Erst jetzt, kurz vor dem abschließenden Akkord der Himmelsorgel, war es mir gestattet, dies zu lesen. Mein Weg endete dort, wo der spanische Konquistador seine Reise begonnen
hatte: in Maní, an einem kalten Aprilmorgen des Jahres 1562.
»Mein Name ist Luis Casa del Lagarto. Ich entstamme einem alten Adelsgeschlecht. Meine Ahnen dienten unter König Ferdinand II. von Kastilien und seiner Gattin Isabella I., welche sie als treue Vasallen kannten, bereit, ohne zu Zögern ihr Leben und ihre Seele für die Krone zu geben. Gebürtig aus Madrid, folgte ich der Tradition meiner Familie und wurde Soldat. Unser ehrenhaftes Haus verarmte, und so beschloss ich um des Ruhmes und, mehr noch, eines würdigen Lebensunterhaltes willen nach Erreichen des achtundzwanzigsten Lebensjahres nach Westindien aufzubrechen, welches Señor Hernán Cortés, der Größte der Eroberer, für die Krone unterworfen hatte. So kam ich nach Yucatán, wo ich etwa fünf Jahre diente, die Indios bändigte und die Macht des Königs und des Papstes festigen half. Dort schloss ich Freundschaft mit Mönchen, die meine Lese- und Schreibkundigkeit beförderten, weshalb ich heute diese Zeilen zu schreiben imstande bin. Ebendort widerfuhr mir auch eine überaus wundersame Begebenheit, die ich mit Gottes Hilfe in diesem Bericht darlegen werde.
Dass Yucatán, welches früher als Insel galt, in Wirklichkeit Teil eines ungenügend erforschten Kontinents ist. Dass die Erde dort flach ist und keine Erhebungen besitzt, weshalb sie vom Schiff aus schlecht zu sehen ist, und dass nur in der Gegend zwischen Campeche und Champotón Hügel in Erscheinung treten, von denen der höchste Los Diablos genannt wird, ein Name, für den es überaus unheilvolle Gründe gibt.
Dass die Küsten dort eben und niedrig sind und die Schiffe wegen des flachen Wassers nicht nahe an sie herankommen, weshalb sie in einer gewissen Entfernung verkehren. Dass der Meeresgrund selbst
schlammig ist, so dass in dem Falle, wenn ein Schiff ans Ufer geworfen wird, nicht viele ums Leben kommen. Dass es jedoch unter dem Schlamm Felsen und Schiefer gibt, welche oft das Tauwerk beschädigen.
Dass das Festland Yucatáns von einem indianischen Volk bewohnt ist, das sich Maya nennt. Dass dieses Volk in alter Zeit eine große Macht besaß, woran noch heute die von ihm errichteten Bauten erinnern. Dass diese Menschen jedoch im Glauben an ihre Priester und Seher, welche den Jüngsten Tag zu früh bestimmten, ihre Städte verließen und selbst ihr Gedächtnis verloren. Dass in unserer Zeit die Spanier sie zum Glauben Christi bekehrten, wodurch sie sie vor neuen Versuchungen bewahrten, sie jedoch auch daran hinderten, sich an das Vermächtnis ihrer Vorväter zu erinnern.
Dass es Gottes Wille war, jenen Soldaten, der nun dieses Tagebuch schreibt, in Ereignisse zu verwickeln, die ihm geheime Kenntnisse des indianischen Volkes eröffneten, deren größte die Nachricht vom kommenden Ende der Welt und den untrüglichen Anzeichen desselben sowie weitere Prophezeiungen waren. Dass diese Geheimnisse in einem alten Buch aufgeschrieben sind, das ›Chronik des Künftigen‹ genannt wird, welches ich bei einer Expedition im Jahre 1562 erhielt.
Dass ein gewisser Diego de Landa, Franziskanermönch,
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