Sumerki - Daemmerung Roman
Ihre mündlichen Erzählungen verarbeitete Landa in seiner Relación , ließ jedoch vieles weg, das er als unwichtig erachtete. Übrig blieb eine rudimentäre, aber doch aufschlussreiche Schilderung der Stammesgeschichte, Lebensweise und Riten der Maya, wobei die verengte Perspektive des hispanischen Christentums stets deutlich zu spüren ist. Nicht zuletzt kommt dies in Landas Versuch zum Ausdruck, die Schrift der Maya zu entziffern.
Hierzu muss man wissen, dass die Hieroglyphenschrift der Maya zur Zeit der Ankunft der Spanier, also im 16. Jahrhundert, noch aktiv verwendet wurde. Für die Konquistadoren, die bemüht waren, sämtliche Spuren der indianischen Geisteskultur zu eliminieren, war diese Schrift und die darin verfassten Bücher also von vornherein des Teufels. Insofern entspricht Glukhovskys Landa in Sumerki in seinen ursprünglichen
Intentionen und Handlungen im Wesentlichen dem historisch verbürgten Charakter.
Interessanterweise versuchte der wahre Diego de Landa jedoch, als er - von der spanischen Kirche rehabilitiert - nach Yucatán zurückkehrte, die wenigen übriggebliebenen Schriftzeugnisse der Maya zu sammeln und aufzubewahren. Hatte er in der Zwischenzeit eingesehen, dass man die Schrift der Eingeborenen, anstatt sie auszurotten, vielmehr dazu verwenden sollte, diese zu bekehren? So wäre jedenfalls auch sein fehlerhafter Ansatz zu erklären, jeder Glyphe der Maya-Schrift jeweils einen Buchstaben des lateinischen Alphabets zuzuordnen - womöglich stand dahinter die Absicht, eines Tages die Bibel in die Landessprache zu übersetzen.
Es sollte fast 400 Jahre dauern, bis dieser Fehler erkannt und beseitigt wurde. Und genau hier kommt die zweite historische Figur des Romans ins Spiel.
Prediger in der ideologischen Wüste: Juri Knorosow und der Schlüssel zur Schrift der Maya
Die Figur des Juri Andrejewitsch Knorosow in Sumerki ist natürlich auch nur eine fiktionalisierte Version des wirklichen Maya-Forschers. Doch auch der echte Juri - Walentinowitsch - Knorosow war eine so bemerkenswerte Persönlichkeit, dass seine Biografie Beachtung verdient.
1922 geboren, marschierte der junge sowjetische Artilleriesoldat kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin ein, wo er auf der Straße vor der Reichsbibliothek auf einige
Bücherkisten stieß. Als er sie öffnete, ahnte er nicht, dass ihn seine Entdeckung zu einem der größten Schriftforscher des 20. Jahrhunderts machen würde: Er fand darin ein Exemplar von Diego de Landas Reisebericht sowie eine Reproduktion dreier erhaltener Maya-Handschriften, nahm diese an sich und kehrte nach Leningrad zurück, wo er wenig später sein Archäologiestudium abschloss. Seine Doktorarbeit war - wen wundert’s? - eine Übersetzung von Landas Relación . Da Knorosow sich mit alten Sprachen auskannte, muss ihm irgendwann der Irrtum des Bischofs von Yucatán aufgefallen sein: Für eine Alphabetschrift verfügte die Sprache der Maya über zu viele Zeichen, nämlich rund 800. Als reine Wort- oder Begriffschrift, wie etwa das Chinesische, war sie aber auch nicht zu interpretieren; für eine eigenständige Sprache waren 800 Zeichen wiederum zu wenig. Fasziniert von diesem Problem, machte sich Knorosow mit geradezu fanatischer Begeisterung an die Arbeit. Sewjan Wajnschtejn, ein befreundeter Ethnologe, erinnerte sich, dass er sämtliche Stipendiengelder sogleich für Bücher ausgab, von Brot und Wasser lebte und sich dafür das Geld von seinen Bekannten lieh. Quasi im Alleingang, ohne den Kontakt zur wissenschaftlichen Forschung des Westens, kam Knorosow schließlich mittels langwieriger Kombinatorik Mitte der 1950er Jahre zu dem Schluss, dass es sich um ein gemischtes System handeln musste: Die Schriftzeichen der Maya repräsentierten teils Worte, teils bestimmte Silben, und erst die Kombination von jeweils zwei Zeichen ergab einen Begriff.
Seine außergewöhnlichen linguistischen Fähigkeiten soll Knorosow übrigens auf ein Ereignis aus seiner Kindheit zurückgeführt haben: Bei einem Fußballspiel bekam er einmal einen so heftigen Schlag auf den Kopf, dass er mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und nur durch ein Wunder sein Augenlicht behielt. Sehr viel später, bereits in vorgerücktem Alter, soll er darüber gescherzt haben: Jeder, der sich mit der Entschlüsselung alter Schriften beschäftigen wolle, solle erst mal »eins über den Schädel bekommen« … Nun, einen leichten »Knacks« können wir dem Knorosow unseres Romans sicherlich nicht
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