Sumerki - Daemmerung Roman
vielleicht weil sie ihm näherstanden. Jedenfalls schien er panische Angst davor gehabt zu haben, sie zu verraten - selbst wenn er dafür bis in alle Ewigkeit in siedendem Öl kochen musste. Während die Jungfrau Maria allen Rechtgläubigen auf einmal - und zugleich niemandem im Einzelnen - von ihrer gleißenden Wolke ihr zerstreutes Lächeln zuwarf, beobachteten die rachsüchtigen und heimtückischen Demiurgen der Maya den Vormarsch der spanischen Truppe mit boshaften Blicken, verborgen hinter den knorrigen Stämmen des Urwalds. Doch nicht jedem war es gegeben, diesen Blick am eigenen Leib zu spüren.
Natürlich, anstatt selbst zu sterben, hätten die beiden Indios den betrunkenen Spaniern auch ein Gift in den Maisschnaps mischen oder sie im Schlaf erdolchen können. Doch vielleicht waren sie nicht sicher gewesen, ob sie dazu die Kraft aufbringen würden, oder sie hatten sich nicht die Hände schmutzig machen wollen. Hernán González jedenfalls hatte dem Gemetzel die Flucht vorgezogen. Er hatte gewartet, bis sein Bewacher eingeschlafen war, ein Seil an einem der oberen Äste angebracht, sich dann auf diesen gesetzt, seinen letzten Halsreif angelegt, die Beine gestreckt - und das Zeitliche gesegnet.
Ich hätte wetten können, dass ein ähnliches Schicksal auch dem zweiten Wegführer bevorstand und dass man auch ihn schon bald beerdigen würde - spätestens im fünften Kapitel des Berichts. Wie auch immer, die spanische Expedition
war dem Untergang geweiht. Ich erhob mich von meinem Stuhl und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Etwas nagte in meiner Brust.
Ich versuchte, vernünftig nachzudenken. Wenn diese Aufzeichnungen veröffentlicht worden waren, so musste zumindest ihr Autor allen Gefahren lebendig entronnen sein, hatte er doch seine Geschichte bis zu Ende erzählen und sie ihren Herausgebern anvertrauen können. Abenteuerromane in der ersten Person gehen genau deshalb immer glücklich aus, weil der Protagonist überleben muss, um sie niederzuschreiben; es mag eine Vielzahl ähnlicher Sujets geben, deren Helden einen furchtbaren Tod erleiden - doch die Geschichte schreiben am Ende immer noch die Sieger.
Kaum hatte ich mich ein wenig beruhigt, da schlug mir der Dämon des Zweifels eine andere Antwort vor. Damit sein Bericht überliefert wurde, musste der unbekannte Konquistador keineswegs überlebt haben. Genauso gut war es möglich, dass eine wissenschaftliche Expedition mehr als zwei Jahrhunderte später bei einem Streifzug durch diese Wälder auf ein Skelett mit einem Indiopfeil in der Augenhöhle traf, das das Tagebuch in einer ledernen Hülle noch immer an den Brustkorb drückte.
Nein, zu erahnen, was mit dem spanischen Expeditionstrupp geschehen war, der sich an einem Aprilmorgen des Jahres 1562 von Maní aus nach Südwesten aufgemacht hatte, war unmöglich. Allein das fünfte Kapitel des Berichts konnte mir dies verraten. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, legte einen Packen sauberes Papier bereit und rückte die Schreibmaschine zurecht.
Ich durfte keine Zeit verlieren.
EL AUTO DE FÉ
A n diesem Morgen arbeitete ich, bis meine Finger steif waren und die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen. Die Sonne war längst aufgegangen, und ich musste die Vorhänge zuziehen, damit meine ans Halbdunkel gewöhnten Augen nicht geblendet wurden …
Ich war offenbar eingenickt, ohne es zu bemerken. Denn als ich erwachte, war es bereits Nachmittag, und ich begriff, dass ich die ganze Zeit mit dem Kopf auf der Tastatur meiner Olympia geschlafen hatte. Die Blätter lagen wirr auf dem Tisch; hoffentlich hatte ich nicht versucht, mich im Schlaf damit zuzudecken. Mein Kopf schmerzte, und meine Muskeln ächzten, weil ich so viele Stunden in dieser unbequemen Haltung zugebracht hatte. Ich glitt vom Stuhl, kroch zum Bett hinüber, und ein paar Sekunden später blendete sich die Welt wieder aus.
Als ich das zweite Mal erwachte, war es draußen dunkel. Ich machte Licht, schlüpfte in meinen Hausmantel und ging ins Badezimmer - mein Körper verlangte nach Pflege. Nach all den Abenteuern, die ich ausgestanden hatte, konnte ich es mir durchaus leisten, ihn vierzig Minuten lang in heißem Wasser einzuweichen und dabei das tags zuvor Gelesene zu überdenken.
Ich füllte die Badewanne - ein recht geräumiges Exemplar mit fliederfarbenem Anstrich -, warf den Hausmantel ab und sank, die Schaumwolken auf der Oberfläche vorsichtig
zerteilend, ins Wasser. So ein Bad ist für mich das Höchste. Wo sonst fühlt man sich
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