Sumerki - Daemmerung Roman
abzustatten, schien er sich erst recht daran erinnern zu wollen, wozu ihn die Natur erschaffen hatte. Der Setter ist eine Jagdrasse, und ich war mir dessen durchaus bewusst. Wenn wir also - gleich ob im wirklichen Leben oder im Traum - doch einmal den Weg aufs Land oder in den Park fanden, versuchte ich ihn so wenig wie möglich einzuschränken.
Nach einiger Zeit war er so weit davongelaufen, dass ich ihn aus den Augen verlor. So tat ich bis zwölf Uhr nachts, als ich von einem natürlichen Drang geweckt wurde, nichts anderes, als die sonnendurchfluteten Alleen des sommerlichen Parks entlangzustreifen und immer wieder, wie ein mechanisches Uhrwerk, seinen Namen zu rufen. Die ganze Zeit über lief mein Hund irgendwo in der Nähe umher, zeigte sich aber nie, dafür kam aus dem Gebüsch ein fröhliches Bellen, mal von rechts, mal von links, stets aus geringer, aber unerreichbarer Entfernung …
Ich stand auf, und zuallererst, noch bevor ich ins Bad ging, lief ich in die Küche, um dort genauestens die Wände zu untersuchen.
Eine kleine Tür war nirgends zu entdecken.
In dieser Nacht konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich wälzte mich unruhig hin und her, und gegen frühen Morgen legte ich mir einen Plan zurecht, wie ich diesen unerwartet leeren Tag verbringen würde.
Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht gleich wieder ins Büro zu laufen, sondern mindestens bis zum Nachmittag zu warten. Zunächst ein anständiges Frühstück mit Kaffee und Zeitung, wie ich es aus bekannten Gründen schon seit einigen Tagen nicht mehr gehabt hatte. Sodann intensive Lektüre des Maya-Buches, ohne Hast, dafür umso sorgfältiger. Ich versprach mir davon Antworten auf so manches, was Kümmerling offengelassen hatte.
Nach mehreren Tagen mit Tee und belegten Broten schien mir die richtige Wahl ein reichlich fader, aber höchst gesunder Haferbrei zu sein, und um dieser typischen Gefängnis- oder Armeekost ein wenig Farbe zu verleihen, rührte ich noch etwas flüssigen Blütenhonig hinein. Während der Brei abkühlte, schlug ich die Zeitung auf, die ich zuvor aus dem Briefkasten geholt hatte.
Die ganze erste Seite war dem Erdbeben in Amerika und der Karibik gewidmet; zwei Fotos, jedes eine Viertelseite groß, zeigten die völlig zerstörten Hauptstädte Haitis und der Dominikanischen Republik. Havanna war, so schien es, auch schwer getroffen worden.
Seite zwei besetzte komplett ein langes Interview mit Lidija Knorosowa, der neuen »Miss Universe«. Ein großes Foto der Russin mit einem mit Brillanten besetzten Königsdiadem auf dem Kopf prangte mitten auf der Seite.
Sie war wohl eine der seltsamsten Schönheitsköniginnen, die ich jemals gesehen hatte.
Zunächst ihr Alter. Im Unterschied zu den Mädchen, die für gewöhnlich an derartigen Wettbewerben teilnehmen, war sie bereits weit über dreißig. Ihr Gesicht war zugegeben hübsch, doch zu behaupten, dass Venus selbst ihr bei der Geburt auf die Stirn geküsst hatte, wäre zu viel des Guten gewesen. Lidija Knorosowa überzeugte eher durch ihren Charme, ihre weichen, vollen, sanft lächelnden Lippen, die anrührenden Fältchen, die ihre Augenwinkel umspielten. Der Fotograf hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, etwas zu retuschieren. Sie war ganz anders als all die Nymphchen mit den großen grauen Augen, die Russland bei derlei Wettbewerben sonst vertraten, und es war mir völlig unverständlich, wie diese sympathische, aber äußerlich eher durchschnittliche Frau die Jury hatte überzeugen können, während neben ihr attraktive, rehäugige Mulattinnen aus Venezuela und Argentinien ihre schwindelerregend langen Beine über die Bühne streckten.
Auf der Suche nach Lidijas Geheimnis las ich das Interview mit ihr, doch die Russin gab keinerlei Erklärung, warum gerade sie gewonnen hatte. Stattdessen berichtete sie von ihrem Lebensweg, ihrer Karriere - sie war leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem kulturwissenschaftlichen Institut - und dankte, wie in solchen Situationen üblich, ihren Eltern für die Erziehung und Unterstützung. Besonders
warmherzig sprach sie von ihrem kranken Vater, für dessen Behandlung sie ihr gesamtes Preisgeld spenden wollte.
Ich zuckte mit den Achseln und faltete die Zeitung wieder zusammen.
Das Buch, das ich erworben hatte, war tatsächlich ungewöhnlich. Es erinnerte mich an einen der mindestens vierzig Bände jener medizinischen Enzyklopädie aus den 70er Jahren, die meine Großmutter früher bei sich im Regal stehen gehabt
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