Sumerki - Daemmerung Roman
hatte.
Der Titel Die Chroniken der Maya-Völker und die Eroberung Yucatáns und Mexikos stand in weißen, geprägten Buchstaben auf dem soliden Buchdeckel. Das feste, hochwertige Papier war über die Jahrzehnte ein wenig vergilbt, jedoch nicht alt geworden, sondern eher gereift - wie teurer Wein in einem temperierten Keller. Ich hielt den Band dicht vor mein Gesicht, blätterte ein paar Seiten auf und sog den süßlich staubigen Bibliotheksgeruch ein. Dieses absolut unverwechselbare Aroma brachte mich sogleich in die richtige Stimmung. Das Buch verlangte danach, dass ich mich damit auf die Couch legte und es ohne Hast, im gemütlichen Schein der Abendlampe mit dem grünen Schirm las wie einen Lieblingscocktail, den man langsam und genüsslich mit einem Strohhalm schlürft.
Seltsam: Auf dem Titelblatt wurde kein Verlag genannt. Und der Name des Autors, der in kleinen Lettern oben auf der Seite stand, rief biblische Assoziationen hervor, durchaus möglich, dass es sich um ein Pseudonym handelte: E. Jagoniel; das Buch enthielt keinerlei Informationen
über den Wissenschaftler, der dieses auf den ersten Blick durchaus seriöse Werk verfasst hatte. Was ließ sich noch sagen? Moskau 1961, Offsetdruck, Auflage 300 Stück. Der Eindruck war zwiespältig: Auf der einen Seite schien dies ein Erzeugnis sowjetischer Wissenschaft par excellence zu sein, auf der anderen Seite war klar, dass damit irgendetwas nicht stimmte. Fast kam es mir vor wie eine gekonnte Fälschung - doch wem würde es je in den Sinn kommen, wissenschaftliche Literatur aus der Sowjetzeit zu fälschen?
Dem Inhaltsverzeichnis nach zu urteilen war das Werk akribisch recherchiert worden. Die Geschichte der Halbinsel wurde bis in die Zeit der ersten Besiedelung durch nomadisierende Stämme beschrieben. Auf mehreren Dutzend Seiten erläuterte der Autor die präklassische Epoche, und noch ausführlicher ließ er sich über jene Jahrhunderte aus, in deren Verlauf die Maya den Höhepunkt ihrer Macht erreichten. Ein Kapitel, das dem Zerfall dieser Kultur gewidmet war, konnte ich nicht entdecken, doch war ich absolut überzeugt, dass E. Jagoniel davon einiges mehr zu berichten wusste als der Parvenü Kümmerling. Ich musste bloß alles geduldig von vorn bis hinten durchlesen.
In dem Teil, der die Ankunft der Spanier und den Beginn der Kolonisierung beschrieb, fiel mir sogleich das Kapitel über den Franziskanerbischof Diego de Landa und seine Werke auf. Mit ihm beschloss ich mein intensives Studium zu beginnen: Ich brauchte dringend eine bekannte Person, um mich in der düsteren Welt des mittelalterlichen Südamerika, durch die Hornbrille der sozialistischen Wissenschaft der 60er Jahre blickend, zu orientieren.
Wobei ich nicht einen einzigen Verweis auf die Realien jener schwierigen Zeit fand, in der diese Arbeit verfasst wurde. Nirgends wurden in dem Text wissenschaftliche Autoritäten erwähnt, die nach Beginn des 20. Jahrhunderts publiziert hatten, so dass ich schlussfolgerte, es handele sich hier um die Übersetzung eines Buches, das irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg entstanden war. Über den genauen Erscheinungszeitraum konnte ich jedoch nur spekulieren.
Auf jeder beliebigen Seite, die ich anlas, machte der Autor unverzüglich deutlich, dass er seinen Forschungsgegenstand bis ins kleinste Detail beherrschte.
»Diego de Landa Calderón wurde am 12. November 1524 in der Ortschaft Cifuentes in der spanischen Provinz Guadalajara geboren. Die Landschaft, die er um sich erblickte, als er die Augen öffnete, und in der er aufwuchs - Weinberge an den Hängen flacher Hügel, Pappelalleen, unzählige Flüsschen und Bäche -, unterschied sich eklatant von dem Ausblick, den er vom Fenster seiner Mönchszelle aus genoss, bevor er am 29. April 1579 zum letzten Mal seine Lider schloss.
Im selben Jahr 1524, als Diego de Landa das Licht der Welt erblickte, gründete der Entdecker und Soldat Pedro de Alvarado in Guatemala, das er unterworfen hatte, die Stadt Santiago de los Caballeros. Die Eroberung Yucatáns, dessen künftiger Bischof 1547 dort eintreffen sollte, um bis an sein Lebensende dort zu bleiben, hatte damals jedoch erst begonnen. Die spanische Krone dachte zu jener Zeit noch nicht einmal daran, die Halbinsel in das entstehende Westindische Reich aufzunehmen.
In der Geschichte der Conquista spielt Bischof de Landa eine höchst widersprüchliche Rolle. Er ist sowohl Verfolger der von den Spaniern unterworfenen Maya als auch deren Verteidiger gegenüber
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