Sumerki - Daemmerung Roman
überreichte ihn mir. Offenbar hatte er meinen fragenden Blick bemerkt und sagte brüsk: »Nur damit Sie Bescheid wissen: Den nächsten Teil haben wir nicht.«
»Und wann kommt er?«
Ich muss ein so enttäuschtes Gesicht gemacht haben, dass der Büromensch sich ein herablassendes Lächeln nicht verkneifen konnte. »Keine Ahnung.« Seine Worte fielen wie das Fallbeil einer Guillotine. »Der Kunde ist in den letzten Tagen nicht aufgetaucht. Kommen Sie gegen Ende der Woche noch mal vorbei, oder geben Sie mir einfach Ihre Telefonnummer, dann rufe ich Sie an.«
»Danke, nicht nötig, ich bin sowieso öfter in der Gegend …« Ich wusste, dass ich von nun an zehnmal täglich an diesem verdammten Büro vorbeigehen würde.
»Wie Sie meinen.« Er zuckte mit den Schultern, griff nach seiner Fernsteuerung und machte den Ton wieder lauter.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.
Soso. Als ich nach draußen trat, schloss ich die Augen und sog die Luft ein, die nach Benzinabgasen und einem jener seltenen Novembergewitter roch. Ich horchte in mich hinein, schaute auf mich selbst, wie man bisweilen das eigene Spiegelbild in einer dieser Regentonnen betrachtet, die manchmal noch auf Datschengrundstücken oder bei Dorfhäusern zu finden sind. Meine schwankende Silhouette schwamm auf dem trägen, dunklen Wasser, auf dessen Oberfläche auch ein einsames Ahornblatt trieb, und der Blick, der mich von dort ansah, war müde und gleichgültig. Nein, es war kein Weltuntergang. Das nächste Kapitel brauchte eben noch etwas Zeit. Meinetwegen. So würde ich mich wenigstens mal ausschlafen können.
Völlig entkräftet und leer kam ich zu Hause an, doch meine Müdigkeit war zäh wie ein selbst gemachter Lutscher und genauso bittersüß. Ich kroch unter die Daunendecke, nahm das neu erworbene Maya-Buch zur Hand, kam jedoch gar nicht mehr dazu es aufzuschlagen. Meine Gedanken verwirrten sich, mischten sich mit durcheinanderwirbelnden Bildern, Skizzen meiner Fantasie, und schon nach wenigen Sekunden zog mich der Schlaf kopfüber in seinen Strudel hinein.
In dieser Nacht träumte ich wieder von meinem Hund, und ich erinnere mich, dass ich mich bereits im Traum sehr darüber freute. Wie sich herausstellte, gab es in der
Küche meiner Wohnung eine kleine Tür, hinter der sich eine Kammer verbarg. Mein Hund hatte doch tatsächlich die ganze Zeit, seit ich ihn tot wähnte, hinter dieser Tür weitergelebt. Im Traum begann er nun an der Tür zu kratzen, damit ich ihn herausließ, und als ich ihm öffnete, leckte er mich vor Freude überall ab, vor allem die Nase und die Ohren. Gleich darauf forderte er mich natürlich wieder auf, mit ihm Gassi zu gehen: Erst blickte er mir in die Augen und lief zur Wohnungstür, und als er merkte, dass diese Andeutungen nichts fruchteten, brachte er mir selbst Leine und Halsband.
Die Träume unterschieden sich im Wesentlichen nur durch die Umstände, unter denen ich entdeckte, dass mein Hund eigentlich gar nicht tot, sondern im Gegenteil quicklebendig und bei bester Laune war. Die übrigen Details glichen sich stark: Er wollte gefüttert und nach draußen geführt werden, wo er mir Stöckchen zum Spielen brachte.
Mitunter, wie auch diesmal, fand ich heraus, dass er die ganze Zeit ohne mein Wissen irgendwo in der Nähe gelebt hatte. In einer anderen Version war er tatsächlich gestorben, wusste es nur nicht, und solange ich mit ihm wie mit einem lebenden Wesen umging, existierte sein Tod sozusagen nicht im Ernst. Das Wichtigste war dabei, die Spielregeln einzuhalten, ihn nicht zu beweinen und auch sonst keinerlei Mitleid zu zeigen, mit einem Wort: alles zu tun, damit er nicht darauf kam, dass er eigentlich tot war. Was bei seiner Lebensfreude und überschäumenden Energie auch nicht weiter schwierig war. Schließlich kam es noch vor, dass er einfach so, ohne jegliche Erklärung, wieder
bei mir war und ich nichts von seinem Tod wusste. Diese Träume, die leicht und hell waren, mochte ich am liebsten.
Diesmal führte uns der Spaziergang durch einen unbekannten Park. Wie üblich ließ ich ihn von der Leine, sobald wir die Straße hinter uns gelassen hatten, und sofort begann er wie toll auf einer Wiese hin und her zu jagen, ein Vergnügen, das ich ihm nie versagte. Als er noch lebte, hatte er aufgrund meines Eremitendaseins oft ganze Tage lang herumliegen müssen - winters auf dem Sofa, sommers auf dem Boden -, und so, wenn er nun wieder einmal aus dem Reich der Toten ausbrach, um mir in meinen Träumen eine Stippvisite
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