Sumerki - Daemmerung Roman
Sonst kam er immer in der Mittagspause. Er war ja verheiratet und ging nach Büroschluss nach Hause …« Wie zur Rechtfertigung fügte sie hinzu: »Ich hab mich manchmal mit ihm unterhalten, wenn ich zum Rauchen nach draußen ging.«
»Und was war an dem Abend?«
»Er sagte, er hätte viel zu tun und müsste bis spätabends bleiben. Er sprach von irgendwelchen komplizierten Übersetzungen und dass er viel in Wörterbüchern hätte nachschauen müssen, weshalb es sich so lang hingezogen hätte.«
»Er hat selbst übersetzt?«, fragte ich verwundert. »Ich dachte, er sei nur so … für die Verwaltung zuständig.«
»Ich weiß nicht.« Sie hob ihre schmalen Schultern. »Als ich nach Hause ging, war es halb zwei Uhr nachts. Da hat bei ihm noch das Licht gebrannt. Die Rechnung, oder wollen Sie noch einen Kaffee?«
Das Schatzkästchen ihrer Mitteilsamkeit war genauso plötzlich wieder zugeschnappt, wie es sich geöffnet hatte. Ich bestellte einen Espresso in der Hoffnung, noch mehr aus ihr herauszubekommen, doch als sie ihn brachte, entfernte
sie sich gleich wieder. Lange rührte ich mit dem schlichten Teelöffel in der dampfenden Tasse herum und lauschte dem klingenden Geräusch. Endlich stürzte ich die abgekühlte, ekelig gewordene Brühe hinunter und bat um die Rechnung.
Sie lächelte, als sie das großzügige Trinkgeld bemerkte.
»Was bedeutet der Name dieses Cafés?«, fragte ich, um die Grabesstimmung aufzulösen, die am Ende unseres Gesprächs geherrscht hatte.
»Tzompantli? Ich frag mal den Chef. Ruben Aschotowitsch!«
Der Dicke mit dem Bart an dem hinteren Tisch fuhr hoch und blickte sie verschlafen an.
»Hier möchte jemand wissen, was ›Tzompantli‹ bedeutet. Das ist doch Ihre Sprache, nicht? Oder ist es Georgisch?«
»Es bedeutet gar nichts«, antwortete er phlegmatisch, wobei er die Vokale auf eine ganz bestimmte Art dehnte. »Einfach ein schönes Wort …«
Tief in Gedanken versunken, kehrte ich nach Hause zurück. Ich hatte allmählich das Gefühl, dass ich ins Auge eines Orkans geraten war: Unbekannte und unermessliche Kräfte zerstörten alles rings um mich herum, fällten jahrhundertealte Bäume, rissen Menschen mit sich ins Nichts - doch im Zentrum des Chaos herrschte tödliche Stille. Am Ende war ich sogar derjenige, der all diesen Wirbel, ohne es zu wollen, ausgelöst hatte, doch war ich selbst davon unberührt geblieben. Noch.
Am Ende war ich mitten in eine brandgefährliche Räuberpistole geraten, deren Akteure hinter alten Büchern von
unschätzbarem Wert her waren. Besessene Antiquare, große Auktionshäuser, die Auftragskiller anheuerten, unschuldige Philologen und Büroangestellte, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren, die Fahnder der Miliz … Stoff für einen spannenden Krimi, besser noch: einen Comic. Ich wollte meine Besorgnis zerstreuen, mir einreden, dass die Ereignisse sich zu einer höchst amüsanten Geschichte zusammenfügten. Doch es gelang mir nicht. Mir war das Ganze überhaupt nicht mehr geheuer.
Das Schicksal hat mich vor der Versuchung bewahrt, dachte ich plötzlich. Hätte ich auch nur die kleinste Chance gehabt, an die Fortsetzung des Tagebuchs ranzukommen, ich hätte mich ohne zu zögern an die Übersetzung gemacht. Wer weiß, was für ein Los mir dann beschieden gewesen wäre? Doch eine unsichtbare Hand hatte mich aufgehalten, einen Schritt vor dem Abgrund, auf den ich blind zugegangen war. Sie hatte mich umgedreht und in die entgegengesetzte Richtung geschickt - zurück in ein normales, gewöhnliches Leben. Ein ruhiges, alltägliches, graues, mir längst überdrüssiges, leeres und sinnloses Leben. In mein Leben. Und dafür sollte ich dankbar sein?
Wie auch immer, ich hatte keine andere Wahl. Wie eine Aufziehpuppe ging ich mechanisch weiter in die Richtung, in die man mich gelenkt hatte - aus eigener Kraft von diesem Weg abweichen konnte ich nicht. Es blieb mir nichts anderes, als mich damit abzufinden und mir die Vorzüge meiner Lage klarzumachen.
Wie gesagt, meinen Ausflug in die Wälder Yucatáns einfach so zu vergessen war unmöglich. Kaum war ich zu Hause,
machte ich mich sogleich wieder an E. Jagoniels Buch. Das Studium des Alltags der Maya-Völker versüßte ich mir dabei erneut mit Tee und Sauerkirsch-Warenje.
»Die bei den Maya gebräuchliche Astrologie war offiziell und bindend. Für jedes Kind wurde in Abhängigkeit vom jeweiligen Geburtstag ein eigener Kalender erstellt, der die künftigen Ereignisse seines Lebens
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