Sumerki - Daemmerung Roman
geheilt.
Bis Neujahr waren es nun nur noch wenige Tage, und das Päckchen Geldscheine im Wäscheschrank schmolz dahin. Meine Pläne, einen echten Tannenbaum zu kaufen und vielleicht mal wieder meine Freunde von der Uni zu besuchen, waren bereits akut gefährdet. Leider wurde mir dies erst bewusst, als sämtliche Übersetzungsfirmen, mit denen ich jemals gearbeitet hatte, bereits in die Ferien gegangen waren.
Ich durchforstete mein altes Notizbuch und entdeckte schließlich noch ein Büro, bei dem ich wahrscheinlich vor
fünf Jahren das letzte Mal vorbeigeschaut hatte. Es half nichts: Die Chance, einen zufälligen Auftrag bei einer Agentur zu bekommen, die mich wenigstens ein bisschen kannte, erschien mir realistischer, als ein beliebiges Büro aus dem Telefonbuch anzurufen. Ich wickelte mir meinen kratzigen roten Schal um, setzte meine Wollmütze auf, lief die Treppe hinunter und eilte zur Metro.
Das Haus, in dem sich die gesuchte Firma befand, hatte sich in den Jahren, seit ich das letzte Mal dort aufgetaucht war, völlig verändert. Verspiegelte Doppelglasfenster, die Fassade frisch in edlem Gelb gestrichen, Granitstufen am Eingang und Messingtafeln mit den Namen der ansässigen Unternehmen. Nichts erinnerte mehr an jenes halb zerfallene Wanzennest, in dem früher das Büro Tolmatsch-G gehaust hatte.
Dieser ziemlich altbackene Name fand sich auf keinem der gediegenen Namensschilder, und ich fürchtete schon, dass die Agentur, die ehrlich gesagt ein ziemlich halbseidener Laden mit lockerer Zahlungsmoral gewesen war, pleitegegangen oder nach weit draußen, Mitino oder so, umgezogen war. Doch als ich mir noch einmal genau die Firmennamen durchsah, bemerkte ich zwischen dem Consultingunternehmen Kozine Assessments und einer gewissen OOO Maximow i partnjory ein ebenso großes und aufwendig gestaltetes Schild mit der Aufschrift Übersetzungsbüro Akab Tsin .
Der Wachmann am Eingang schrieb sich meine Passdaten auf und händigte mir einen blauen Passierschein aus. Der neue, chromglänzende Aufzug öffnete seine Türen im vierten Stock mit sanftem Tonsignal, wie man es von internationalen
Flughäfen kennt. Die Räume des Übersetzungsbüros befanden sich gleich auf der linken Seite.
Wie zu erwarten war, hatte Akab Tsin weder mit seinem infernalischen Vorgänger noch mit dem Büro im Haus der ehemaligen Kinderbücherei am Arbat auch nur eine entfernte Ähnlichkeit. Ein strenges, höchst stilvolles Interieur, modernste Technik, perfekt dressierte Mitarbeiter in Anzug und Krawatte. Eine junge, blendend aussehende Frau mit kurzem, dunkelblondem Haar erblickte mich, erhob sich und reichte mir die Hand.
Nachdem ich ihr etwas wirr mein Anliegen dargelegt hatte, fragte sie mich nach meinen bisherigen großen Aufträgen und hörte mir aufmerksam zu - den letzten davon verschwieg ich aus verständlichen Gründen -, ehe sie bedauernd den Kopf schüttelte sie: »Tut mir leid, derzeit sind alle englischen Texte vergeben, und die französischen ebenfalls. Versuchen Sie es doch gleich nach Neujahr - vielleicht kommen da wieder Aufträge rein.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also nickte ich nur. Offenbar musste ich ziemlich belämmert ausgesehen haben, etwa wie ein Schneemann, wenn’s taut, denn nun lächelte sie verständnisvoll und sagte mit der Miene einer Baywatch-Nixe, die einem Ertrinkenden den Rettungsring zuwirft: »Wie ist denn Ihr Spanisch?«
LA ADVERTENCIA
W arum fragen Sie?« Ich hätte kaum etwas Dümmeres sagen können, aber die Worte kamen wie von selbst.
Ohne einen Anflug von Verwunderung erklärte sie: »Vor ein paar Stunden haben wir einen Auftrag reinbekommen - irgendwelche spanischen Dokumente. Ich habe schon bei unseren festen Übersetzern angefragt, aber so kurz vor den Feiertagen hat natürlich keiner Lust. Die Hälfte der Leute ist irgendwo unterwegs, die andere beschäftigt. Und so viele Übersetzer haben wir für Spanisch ja nicht, die meisten Texte sind auf Englisch.«
»Ich … Was sind das denn für Dokumente?« Eine ihrer hübschen Augenbrauen wölbte sich angesichts meiner kaum verhohlenen Aufregung. Vermutlich nahmen die Übersetzer, mit denen sie sonst zusammenarbeitete, die Aussicht auf einen neuen Auftrag etwas gelassener zur Kenntnis.
»Thema Straßenbau, meinte der Kunde. Wohl eher etwas Technisches. Ich kenne den Text nicht. Das ist bei uns so üblich: Wir prüfen die zu übersetzenden Dokumente vorher grundsätzlich nicht.« Diesen offenkundig auswendig
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