Sumerki - Daemmerung Roman
man zu nutzen wissen. Solange die Pyramide nicht verschwand, hatte ich die einzigartige Gelegenheit, mir all das, wovon ich in den Büchern über die Maya gelesen hatte, genauestens zu betrachten. Hastig projizierte ich meine Erinnerungen auf die Erscheinung: Dort steigen die Oberpriester die Pyramide hinauf. Schwere, glänzende Körper
in festlicher Tracht, vor den Gesichtern tragen sie Masken von Göttern und Ungeheuern, durch die Schlitze blicken trübe, übersättigte Augen, die in dieser wie jener Welt schon alles gesehen haben.
Dort, am Fuße der Pyramide, errichten Sklaven eine Grabkammer, in der nach seinem Tod der einbalsamierte und in feinstes Tuch gehüllte Leichnam des Herrschers seine letzte Ruhe findet. In ebendiesen Raum bringen sie seinen geliebten Schmuck und wertvolles Geschirr; man führt seine Konkubinen und Diener herein, die ebenfalls dem Tode geweiht sind; und dann verschließen sie die Kammer für Hunderte, ja vielleicht Tausende von Jahren, bis Grabräuber oder britische Forscher mit einem Schlag den alten König und seine Suite aus ihrem Schlaf wecken.
Dort schleppen die vier Chaacs einen gefesselten Gefangenen zur Opferstätte hinauf …
Noch immer auf Knien, starrte ich diese geisterhafte Tempelpyramide an, die auf unerklärliche Weise durch Zeit und Raum hierher nach Moskau gekommen war, und erinnerte mich in allen Details an meinen zähen Alptraum von letzter Nacht. Wenn dieses Bauwerk es hierhergeschafft hatte, konnten doch auch die Priester aus meinen Träumen in unserer Welt auftauchen, dachte ich gehetzt. Und als sich mir eine schwere Hand auf die Schulter legte, senkte ich nur ergeben den Kopf. Ich spürte am eigenen Leib, wie das Gewebe der Realität, dessen Nähte vor kurzem noch so fest und stabil gewesen waren, sich allmählich mit leisem Knacken aufzulösen begann …
»Geht es Ihnen schlecht?«, ertönte eine teilnahmsvolle Stimme von hinten.
»Der ist doch sturzbesoffen, Herr Hauptmann«, bemerkte jemand anders nüchtern.
»Nur nicht so voreilig, Filippenko. Hier beim Mausoleum kommen nachts manchmal die unmöglichsten Dinge vor … Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch. Alles in Ordnung?«
Auf dem Weg nach Hause schwor ich mir, dass meine Affäre mit Yucatán nun endgültig ein Ende haben würde. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mal blieb ich stehen, um mir mit einer Handvoll Schnee das verschwitzte Gesicht abzureiben, mal rannte ich, von Scham getrieben, ein paar Hundert Meter, bis ich außer Atem war.
Meine Hose hängte ich im Badezimmer zum Trocknen an die Heizung. Jedes Mal, wenn ich es betrat, erinnerten mich die ausgebeulten, nassen Knie an das peinliche Erlebnis beim Lenin-Mausoleum.
Nach einer weiteren Tasse Tee packte ich wild entschlossen Jagoniel und Kümmerling in eine Plastiktüte, steckte die idiotischen Prospekte dazu und legte sogar - allerdings erst nach einigen Minuten inneren Schwankens - meine getippte Übersetzung des Tagebuchs hinein. Dann machte ich mich mit der Tüte auf ins Treppenhaus in Richtung Müllschlucker.
Mindestens dreimal öffnete und schloss ich den eisernen Deckel an dem öde graugrün gestrichenen Fallrohr, doch hatte ich nicht den Mut, ihm alle meine Schätze in den Rachen zu schleudern. Ich musste an Diego de Landa und das Autodafé denken und an die Bücherverbrennungen der Nazis auf den großen Plätzen deutscher Städte. Der Vergleich ging in beiden Fällen nicht zu meinen Gunsten aus:
Wie ich so vor dem Müllschlucker stand mit meinem kläglichen Stoß Papier, glich ich nicht im Geringsten einem Heroen der Meinungsfreiheit, und die Rolle des Inquisitors fiel in diesem Fall sogar meinem eigenen Alter Ego zu.
Schließlich legte ich die Tüte vorsichtig neben das Rohr. Ich weiß nicht, ob ich darauf zählte, dass ein neugieriger Nachbar sie mitnehmen würde, oder ob ich beim nächsten Mal genügend Mut aufzubringen hoffte, um sie in den Schlund des Schachts zu befördern.
Weder am nächsten Tag noch später rührte irgendjemand die Bücher an. Auch ich näherte mich ihnen nicht, stolz auf mein Durchhaltevermögen und froh, dass sich mein Verstand offenbar allmählich von den tropischen Giften befreite. In der darauf folgenden Nacht wurde ich nicht mehr von den wilden Träumen von Tempeln, Priestern und Verfolgungsjagden durch die Selva geplagt. Um die ehemalige Kinderbibliothek machte ich bewusst einen großen Bogen, und bereits nach etwa einer Woche zog es mich nicht mehr dorthin. Ich war
Weitere Kostenlose Bücher