Sumerki - Daemmerung Roman
begreifen, mir wenigstens eine halbwegs akzeptable Erklärung zurechtzulegen. Hatte mir eingeredet, dass da irgendwelche dunklen Hintermänner eine komplexe, vielschichtige Intrige flochten, deren Sinn nur sie allein begriffen, und dass sie es waren, die den nächtlichen Spuk vor meiner Tür veranstaltet und das Brüllen tropischer Raubtiere im Hof nachgeahmt hatten. In der Petrischale meiner Fantasie, deren Nährlösung sich aus der Chronik des Konquistadoren speiste, hatte ein harmloser Streich von halbstarken Jugendlichen plötzlich treibend wie eine Hefekolonie gewirkt und zum Überschwappen geführt.
Das Geräusch, das ich jetzt hörte, rückte endgültig alles ins rechte Verhältnis. Das menschliche Gedächtnis nagt ja, wie die Brandung des Meeres, an den scharfen Kanten unserer Erlebnisse und rundet sie ab. Farben verblassen, Einzelheiten geraten in Vergessenheit, herausgefallene Mosaiksteinchen werden durch fiktive Erinnerungen ersetzt, damit die schwarzen Flecken gelöschter Ereignisse das Gesamtbild
nicht stören. Aber wie hatte ich nach nur wenigen Stunden diesen seltsamen Klang, der weder zu einem Menschen noch zu einem Tier passte, vergessen können? Allerdings war er noch nie so nah gewesen …
Der Schrei hatte offenbar auf einer extremen, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbaren Tonhöhe begonnen, doch selbst dieses tonlose Geräusch war so stark, dass es alles andere unter sich begrub: Die Welt schien für Sekundenbruchteile stillzustehen. Dann jedoch schlug es gegen die Scheiben, blähte sie, wie der Wind die Segel einer spanischen Karavelle, und verursachte ein heftiges Klirren. Ich hatte das Gefühl, von einer Explosionswelle erfasst zu werden: Mein Trommelfell begannen zu jucken, die Ohren wurden taub, und ich musste den Mund öffnen wie bei einem Bombenangriff oder wenn ein Flugzeug in den Himmel steigt. Schließlich erreichte der Klang das hörbare Spektrum, wurde immer gewaltiger, erfüllte meinen Kopf, die Wohnung, den Hof und die ganze Stadt. Es hatte mit einem entsetzlichen Kreischen begonnen, um allmählich in einen tiefen, drohenden Bass überzugehen. Dieses Geräusch war eine Art höllischer - und zweifellos lebender - Antipode zur Luftschutzsirene. Der ganze Alptraum dauerte mindestens zwei Minuten an. Weiß der Teufel, wie das Wesen aussah, dessen Lungen und Kehle so etwas aushalten konnten.
Ich setzte mich auf das Fensterbrett und versuchte nach unten zu blicken, aber sosehr ich meine Wange auch gegen das Glas drückte und meine Augen verdrehte, ich konnte nur das äußerste Ende des kleinen Blechdachs über dem Eingang erkennen.
Erschüttert und betäubt erstarrte das abendliche Moskau. Auf den Schrei folgte eine Friedhofsstille, als wären die Menschen im Umkreis von vielen Kilometern mit einem Schlag verstummt, fassungslos über das, was sie soeben gehört hatten, als durchlebten sie erneut jenen seit Jahrhunderten überwunden geglaubten Zustand der Angst, wenn der Mensch die Herrschaft verliert über den ihm anvertrauten Teil der Welt.
Dieser Zustand dauerte jedoch nicht lange an. Bereits nach einer halben Minute wurde irgendwo ein Fenster geöffnet und eine besoffene Männerstimme brüllte: »Wenn ich noch einmal die Scheiß-Alarmanlage höre, schlitz ich euch die Reifen auf, ihr Arschlöcher!«
Zumindest dieses Geräusch hatte also nicht nur ich gehört.
Ich wusch mich mit kaltem Wasser und inspizierte erneut die Türkette und sämtliche Schlösser, was mich für ein paar Minuten beruhigte. Auf dem Treppenabsatz war alles still, im Hof brummte friedlich ein parkendes Auto, irgendwo waren Mädchenstimmen zu hören. Es war noch nicht sehr spät. Offenbar hatten die Bewohner der umliegenden Häuser eine passende Erklärung für das Geräusch gefunden, das fröstelnde Schaudern abgeschüttelt und waren zum Alltag übergegangen.
Ich war noch nicht in der Lage, zu dem Tagebuch zurückzukehren. Meine Knie zitterten scheußlich, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Gefahr, die sich über mir zusammenbraute, immer greifbarer wurde, je weiter ich mit der Lektüre vorankam.
Mein Magen schmerzte, und ich beschloss eine Pause einzulegen. Ohnehin war die Küche der beste Ort, um eine Verteidigungsposition zu beziehen: ein kleiner, gut beleuchteter Raum ohne dunkle Ecken und alte Spiegel, in dem außerdem mein restlicher Proviant lagerte. Ich stellte den Teekessel auf die Kochplatte und knipste das Radio an, wo gerade die Abendnachrichten liefen.
»Ein Erdbeben
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