Sumerki - Daemmerung Roman
mich eine gepflegte Brünette mittleren Alters mit Solariumsbräune. Liebenswürdig lächelnd nahm sie meine Mappe mit der fertigen Übersetzung in Empfang, ging zu einem Safe im hinteren Teil des Büros und entnahm ihm eine andere Mappe, die genauso aussah, nur mit einer anderen Nummer auf dem Etikett.
»Vielen Dank für die schnelle Erledigung. Bei diesem Auftrag ist das besonders wichtig.«
Ich erkannte ihre Stimme sofort: Es war dieselbe, die mich heute Morgen angerufen hatte. Ich nahm den Umschlag mit dem Honorar entgegen, zögerte kurz - vielleicht hatte ich mich ja nur verhört? - und fragte dann doch: »Sagen Sie, was für ›Rituale‹ meinten Sie?«
»Pardon?« Sie zog eine Augenbraue zu einem Bogen, der den Begriff »höfliche Neugier« perfekt zum Ausdruck brachte.
»Na ja, am Telefon … Sie sagten, dass Sie über Neujahr geschlossen haben wegen der Rituale.«
»Ach ja, die Rituale … Das ist bei uns nichts Besonderes. Oliviersalat, Orangenfilets, Champagner, Ironie des Schicksals , die Neujahrsansprache des Präsidenten. Und der übliche Tratsch unter Kollegen.«
Ich nickte. »Eine Betriebsfeier?«
»Ja, so könnte man es nennen. Eine Betriebsfeier.« Mitten im Satz hörte sie plötzlich auf zu lächeln. Hatte sie auf einmal die goldene Regel ihrer Firma vergessen? Sofort fühlte ich mich unwohl, als ob jemand mit einem Ruck die gesamte schöne Dekoration, in der dieser Film gedreht wurde, abgerissen und nichts als graue Betonwände hinterlassen hätte.
»Wann kann ich die Übersetzung denn abgeben?«, fragte ich beflissen und begann mich Richtung Ausgang zurückzuziehen.
»Keine Sorge, man wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.« Sie besann sich und setzte wieder ihr wohlwollendes Lächeln auf. Was mir nur noch mehr Angst einjagte.
Draußen war es noch hell, denn aufgrund des Besuchs der Milizionäre hatte mein Tag ziemlich früh begonnen. Ich beschloss das Risiko eines Spaziergangs einzugehen. Vielleicht würde die frostige Dezemberluft mich zur Besinnung bringen und meinen Gedanken wieder Klarheit verleihen.
Hätten mich der muntere Ermittler und die freundliche Dame im Büro nicht an den bevorstehenden Feiertag erinnert, ich hätte ihn womöglich vergessen. Der Gedanke, im Mai des Jahres 1562 Neujahr zu feiern, war einfach zu abwegig. Doch war ich mit dieser Haltung offenbar allein:
Der eisige Wind blähte die Festtagstransparente, die quer über der Straße gespannt hingen, in den Auslagen der Geschäfte blinkten Plastiktannen und ruckelten aufziehbare, rotgesichtige Weihnachtsmänner.
Die Menschen trugen bunte Geschenkpäckchen und -tüten mit glänzenden Schleifen umher, und ich sah ungewöhnlich viele lächelnde Gesichter. Als ich an einem Stand vorbeikam, an dem Tannenbäume verkauft wurden, stellte ich mich kurz entschlossen an. Schwer zu erklären, warum ich mir plötzlich ebenfalls einen Baum wünschte, den ich mit der kleinen elektrischen Lichterkette und den glänzenden Glaskugeln schmücken konnte, die im Hängeregal auf ihren Einsatz warteten. Wahrscheinlich wollte ich mich einfach in seinem freudigen Licht wärmen und mich vor der zunehmenden Beklemmung und Einsamkeit schützen, die ich gerade an Geburtstagen und in der Neujahrszeit besonders schmerzhaft empfand. Vielleicht würde dieses Neujahr ja mein letztes sein?
Bevor ich das Bäumchen in den Kofferraum eines Privattaxis drückte, hatte ich mir an einem Kiosk noch ein paar aktuelle Zeitungen mitgenommen. Riesige Schlagzeilen verbreiteten Panik, Aufnahmen eingesackter fünfstöckiger Häuser hielten die Titelseiten besetzt. Wie sich herausstellte, waren die Moskauer Erdstöße nur ein schwaches Echo einer weit schlimmeren Katastrophe gewesen, die insbesondere den Iran schwer erschüttert hatte. Zehntausende Tote allein in Teheran, Hunderttausende im ganzen Land …
Der Moloch gewann an Kraft, und niemand war in der Lage, ihn aufzuhalten. Immerhin begriff ich wenigstens seine Natur, konnte das Geschehen interpretieren, ja sogar in Erfahrung
bringen, was uns bevorstand, und ob eine Rettung möglich war. Vielleicht hielt ich den ersehnten Schlüssel ja bereits in meinen Händen.
Als ich zu Hause ankam, fehlte mir die Geduld, mich mit Spielzeug und Lichterketten zu beschäftigen. Ich stellte die Tanne in die Badewanne, wusch mir die Hände und stürzte zum Schreibtisch. Dieses neue Kapitel war wie ein Abenteuerroman, und ich konnte mich nicht davon losreißen, bis die Übersetzung fertig war.
»Dass wir
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