Sumpfblüten

– keine Melodie, sondern eher ein einziger ferner Ton, der immer lauter wurde. Bald wurde es zu einem satten Akkord, einschließlich Schlagzeug. Honey war erleichtert, dass auch Piejack es hören konnte.
    »Was zum Teufel?«, rief er erschrocken.
    Honey erkannte das Geräusch und lächelte. Sie blinzelte gerade noch rechtzeitig, um einen orange-weißen Schemen über sich hinwegflitzen zu sehen. Instinktiv versuchte sie zu rufen, doch es kam nur eine Blutblase heraus; ihre linke Gesichtshälfte war wie taub, und ihre Zunge fühlte sich an, als hätte sie an Glasscherben geleckt.
    »Sei ja still!« Louis Piejack hüpfte geduckt herum, während er darauf wartete, dass der Hubschrauber der Küstenwache zurückkam. Sein Wachheitsgrad war beeindruckend, wenn man die titanische Dosis Vicodin bedachte, die er intus hatte.
    »Komm ja nicht auf dumme Gedanken«, warnte er.
    Honey war randvoll mit dummen Gedanken. Unglücklicherweise war sie außerdem an einen Baum gefesselt. Das war geschehen, während sie bewusstlos gewesen war und der handtechnisch gehandicapte Piejack Zeit zum Arbeiten gehabt hatte.
    »So lange wir schön stillhalten, sehen die uns nie im Leben«, meinte er zuversichtlich. Er hockte sich neben sie und streichelte mit seiner fehlerhaft reparierten Hand ihren Oberschenkel. Als er anzüglich mit einem schwarz verfärbten kleinen Finger wackelte, knuffte sie die Hand zur Seite.
    Piejack gluckste. »Bald geht’s dir besser, Engelchen. Wenn wir gemütlich zu Hause sitzen.«
    Honey wusste, dass er zu schwach war, um sie zu tragen. Andernfalls wären sie längst auf seinem Boot und würden zum Festland zurückfahren. Langsam richtete sie sich auf und prüfte den Strick, den er um ihre Handgelenke gebunden und dann um ihren Hals geschlungen hatte. Er saß fest genug, um ihr wenige Optionen zu bieten – und um sie es ein wenig bereuen zu lassen, dass sie so getan hatte, als hätte sie Boyd Shreave gefesselt.
    »Verdammt, hab ich einen Durst«, knurrte Piejack.
    Auch Honey war völlig ausgetrocknet. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie mit Sägemehl gegurgelt.
    Sie hörte, wie der Helikopter ganz in der Nähe in der Luft verharrte, konnte ihn jedoch durch die Bäume nicht sehen. Vielleicht suchen die ja nach mir, dachte sie, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, warum. Fry erwartete sie nicht vor dem nächsten Tag zurück, er hatte also keinen Grund, die Küstenwache anzurufen.
    Es sei denn …
    Honey versteifte sich.
    … es sei denn, es war ihr Exmann gewesen, der einen Suchhubschrauber angefordert hatte, was er nicht tun würde, wenn daheim nicht ein Notfall eingetreten wäre.
    Dass zum Beispiel Fry etwas Schreckliches zugestoßen ist.
    Honey Santana fuhr in die Höhe und strangulierte sich dabei beinahe. Louis Piejack riss sie mit einem scharfen Ruck wieder zu Boden.
    »Was hast du denn für ’n Problem?«, wollte er wissen.
    Verzweifelt suchte sie den Himmel ab. Eine Vision setzte sich in ihrem Verstand fest, Fry reglos auf einer Bahre in einem dahinrasenden Krankenwagen. Der Kopf des Jungen war verbunden, und sein Vater saß neben ihm und streichelte sein Haar. Das Bild war so lebensecht, dass Honey glaubte, die Sirene des Krankenwagens über das gellende Dröhnen des Hubschraubers hinweg zu hören.
    Der Helikopter flog davon, und die Vision verging. Honey empfand ein überwältigendes Verlangen, Louis Piejack auf der Stelle zu ermorden, und sie hätte es versucht, wäre nicht der Strick um ihren Hals gewesen.
    Wackelig erhob er sich. »Sehen wir zu, dass wir hier abhauen, bevor das Ding zurückkommt.«
    Mit eigenartiger Faszination sah Honey zu, wie Piejack sich abmühte, das Seil von dem Baum zu lösen; keine leichte Aufgabe für einen Mann mit einem Satz falsch platzierter Finger. Nach mehreren vergeblichen Versuchen beschloss er, den Knoten mit den Zähnen zu attackieren, wodurch er beide Hände frei hatte, um den Jiñocoabo-Knüppel zu heben, als ernüchternde Ermahnung an Honey, sich zu benehmen.
    Als er den Strick gelöst hatte, gelang es ihm, sich das andere Ende wieder um die Brust zu binden. Wortlos strebte er in den Wald und führte Honey wie einen Packesel. Sie marschierten eine halbe Stunde lang und folgten dabei einer dicht bewaldeten, unbekannten Küstenlinie, bis sie auf eine große Lichtung kamen. An einem Ende davon befand sich ein unordentliches Lager mit einer kleinen Feuergrube, die voller Asche war. Piejack band Honey abermals an einen Baum, während er die Habseligkeiten der