SunQuest - die Komplettausgabe 2800 Seiten zum Sonderpreis: Dies Cygni und Quinterna (German Edition)
einzige Märchen Thel-Ryons, das besser nie wieder erzählt wird. Ihr wisst nicht, was das ist, das bei den Diamanten schläft. Ich kann Euch unmöglich zu ihm führen, Ihr würdet es bereuen.«
»Das überlasst mir, Carlim; wenn es die Stadt retten kann, befehle ich es Euch.«
»Ich werde mich dem nicht widersetzen, denn durch Euren Mund spricht Earl Hag. Aber ich
bitte
Euch, es nicht zu tun.«
»Ich schätze Eure Fürsorge, Carlim ak Min«, entgegnete sie ruhig, »aber ich fürchte, wir können sie uns nicht leisten. Es bleibt dabei: Führt mich jetzt durch das Labyrinth.«
Der Geheimnishüter ging mit einer gläsernen Laterne in der Hand voran. »Es ist kalt dort unten, Hoheit«, warnte er, doch darauf musste Seiya es ankommen lassen. Immerhin hatte sie an den Mantel gedacht.
Er hatte ihr nicht verraten, wo sie den Zugang zum eisernen Herzen Thel-Ryons finden würden. »Es gibt mehr als einen. Sie sind alle nicht zu finden, wenn man nicht weiß, wo man suchen muss. Ich führe Euch durch den schönsten.«
Sie waren jetzt im Garten der Burg Hag – schwer vorstellbar, dass so nah dem Himmel so schöne Blumen wachsen konnten. Der Garten hatte Seiya von ihrer ersten Stunde in Thel-Ryon an gelockt: Ein Platz, an dem Geheimnisse noch blühten und Märchen sich zu ihren Erzählern ans Feuer setzen mochten. Der Garten träumte im Morgenzwielicht.
Carlim trat mit ihr vor eine von einem Wasserfall an Blüten überwucherte Mauer – und schob ihn beiseite. Wieder machte Seiya die eigenartige Erfahrung, dass jemand einen Raum betrat, dessen Dasein ihr Verstand zunächst nicht anerkannte – auch der Eingang hinter den Blumen war
unsichtbar
.
Dahinter lag tiefes, rostiges Dunkel; Seiya trat nach dem Geheimnishüter über die Schwelle. Die Dunkelheit schloss sich hinter ihnen wieder ohne den kleinsten Spalt; nur die Laterne erwärmte sie mit ihrem dünnen Schein.
»Carlim«, fragte Seiya, nachdem sie eine Zeitlang schweigend gegangen waren, »seid Ihr schon einmal hier gewesen?«
»Nein«, erwiderte der Geheimnishüter.
Seiyas Schritte stockten. »Wie könnt Ihr dann den Weg wissen?«
»Das brauche ich nicht.« Die Exilkönigin meinte, sie könnte ihn lächeln hören. »Wir Geheimnishüter werden mit dem Wissen geboren.«
»Erstaunlich.«
»Bedenkt, dass es eine Linpha war, die uns dieses Wissen ins Blut geschrieben hat; wir werden es besitzen, solange Thel-Ryon besteht. Sie hat ihren Teil des Paktes getreulich eingehalten.«
»Ich verstehe.« Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung bezüglich Alishas Gabe. Seiya schloss das Schweigen wieder um sich, und Carlim sprach sie von sich aus nicht an.
Ab und zu löste Pong sich von ihrer Schulter und schwirrte in die Dunkelheit davon. Carlim ak Min sollte ruhig wissen, dass Seiya auf der Hut war und der kleine Drache ein vorzüglicher Wächter.
Sie stiegen weit hinab. Es dauerte nicht lange, bis die Königin der Mandiranei sich in der verschlungenen Dunkelheit unter Thel-Ryon verloren fühlte, obwohl sie in dem Monolithen in einem ähnlichen Labyrinth aufgewachsen war. Doch dieses hier war weitaus komplizierter. Der Geheimnishüter führte sie über wirre Pfade, Brücken, durch Hallen und Galerien, in Korridore und Arkaden, über ebenen und abfallenden Grund, über Treppenfluchten und unter schiefen Torbögen hindurch, alles aus Eisen, alles finster, scharfe Kanten überall. Ihre Schritte hallten weit, und eine Zeitlang vermeinte Seiya, jemand folge ihnen durch das Dunkel – aber sie wusste, dass sie sich darin täuschte. Pong lag jetzt um ihren Hals geschlungen wie ein Silberband, und hin und wieder spürte sie ihn dort, ein Züngeln an ihrem Kinn, winzige Schuppen, die sie kitzelten. Seine Anwesenheit beruhigte sie.
Dennoch empfand sie Ehrfurcht an diesem Ort, an dem ihr Thel-Ryons Geschichte leibhaftig entgegentrat – sie malte sich aus, wie es wohl gewesen war, als die Linpha-Magierin sich dem Entôum hier unten stellte. Spuren waren davon freilich keine mehr übrig, auch wenn sie sich dabei ertappte, wie sie danach Ausschau hielt. Diese Spuren hatten nur auf Pergament die Zeiten überdauert.
»Hm?«, machte sie, als Pong sie anstieß.
»Seiya, wir sind da.«
Sie blieb neben dem Geheimnishüter stehen, der die Hand mit der Laterne weit ausgestreckt hielt. »Euer kleiner Freund hat recht. Seht.«
Seiya verfolgte den Lichtschein in die Schwärze hinaus; sie standen in einem Saal, der so weitläufig war, dass man keine Wände und auch keine Decke sah.
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