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Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst

Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst

Titel: Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: nymphenburger Verlag
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Kern lief diese grundlegende Studie auf Folgendes hinaus: Zu den ersten Dingen, die bei einer Erkrankung an Alzheimer nicht mehr richtig funktionieren, gehört das Kurzzeitgedächtnis. Diejenigen Ausläufer der Neuronen im Gehirn, die für die Fähigkeit, Sinnesinformationen zu speichern, eine entscheidende Rolle spielen, werden buchstäblich durchtrennt. (Hier bewegen wir uns im gleichen Bereich wie Cruikshank, als er den Vagusnerv des Hundes durchtrennte.) Um das Ganze ein wenig zu präzisieren: Im Gehirn findet sich ein längliches, bauchiges Bündel von Nervenzellen, die sogenannte entorhinale Rinde (der entorhinale Kortex). Es dient als Zwischenstation für sämtliche Sinnesinformationen, die Sie aufnehmen, um sie dann kurzzeitig zur Speicherung an den Hippocampus weiterzuleiten. (Eben war hier die Rede davon, dass Rudy mit einer Kollegin namens Rachel zusammenarbeitet. Wenn Sie sich noch daran erinnern, ist dies das Werk Ihres Hippocampus.) Seinen Namen erhielt der Hippocampus von dem lateinischen Wort für Seepferdchen, weil seine Form an dieses erinnert.
    Nehmen wir an, Sie kehren vom Einkaufen nach Hause zurück und wollen einer Freundin von einem Paar roter Schuhe berichten, die für sie genau die richtigen wären. Die Vorstellung von diesen Schuhen nimmt den Weg über den entorhinalen Kortex und wird über dessen im sogenannten Tractus perforans zusammenkommende neuronale Ausläufer weitergeleitet. Nun werden die physiologischen Gründe klar, weshalb ein Alzheimer-Patient sich an die Schuhe nicht erinnern wird: Denn genau in dem Bereich, wo der Tractus perforans in den Hippocampus hineinführt, hat sich bei den von Alzheimer betroffenen Menschen gewöhnlich enorm viel nervenschädigend wirkendes Beta-Amyloid angelagert, das die Übertragung der Sinnesinformation verhindert. Und als wäre der dadurch hervorgerufene Schaden nicht schon groß genug, setzt im selben Areal eine Schrumpfung der Nervenenden ein, die dann im Lauf der Zeit ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Auf diese Weise wird der Tractus perforans faktisch vom Hippocampus abgetrennt.
    Die für die Bildung der Nervenenden zuständigen Nervenzellen im entorhinalen Kortex sterben bald ab, weil sie darauf angewiesen sind, dass Wachstumsfaktoren– diejenigen Proteine, die sie am Leben halten– zu jenen Nervenenden heraufbefördert werden, die einst die Verbindung zum Hippocampus hergestellt haben. Schließlich ist die oder der Betreffende nicht länger in der Lage, sich per Kurzzeitgedächtnis an etwas zu erinnern oder Neues zu lernen. Die Demenz beginnt. Mit verheerenden Folgen. Eine Faustregel besagt: Wer vergisst, wo er die Autoschlüssel hingelegt hat, braucht keineswegs zu befürchten, er sei an Alzheimer erkrankt. Erst wenn man vergessen hat, wozu die Schlüssel da sind, weiß man: Es ist Alzheimer.
    In demjenigen Bereich, in dem reihenweise Gehirnzellen absterben, vollzieht sich nun ein wahrlich magisch anmutendes Schauspiel. Das haben Geddes und seine Kollegen in ihrer höchst bedeutsamen Studie gezeigt. Die überlebenden Nachbarnervenzellen beginnen, neue Ausläufer zu bilden, um den Ausfall zu kompensieren. Diese Art von Neuroplastizität wird daher als kompensatorische Regeneration bezeichnet. Erstmals war Rudy hier auf eine der unglaublichsten Eigenschaften des Gehirns gestoßen: Was sich da abspielt, ist so ähnlich, als würde einem Rosenstrauch, von dem gerade eine Blüte gepflückt wurde, vom Nachbarstrauch eine neue gereicht.
    Mit einem Mal empfand Rudy große Wertschätzung für die ausgeprägte Widerstandsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Schreib das Gehirn niemals ab, glaube nie, es könne sich nicht mehr erholen, dachte er. Dank der Neuroplastizität ist das Gehirn vom Grundsatz her ein wunderbar anpassungs- und auf bemerkenswerte Weise erneuerungsfähiges Organ. Deshalb bestand Grund zu der Hoffnung, dass man selbst bei einem durch Alzheimer geschädigten Gehirn nur frühzeitig genug entsprechenden Einfluss auf das Geschehen nehmen müsse– und dadurch womöglich die Neuroplastizität in Gang setzen könne. Für die Gehirnforschung der Zukunft liegt darin eine der verheißungsvollsten Perspektiven.
    Zweiter Mythos: Einmal im Gehirn angelegte Muster sind unveränderlich.
    In der ganzen Zeit, bevor nachgewiesen werden konnte, dass man mit gutem Recht von der Neuroplastizität des Gehirns sprechen darf, hätten die Mediziner ruhig dem Schweizer Philosophen Jean-Jacques Rousseau ihre Aufmerksamkeit schenken können.

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