Superdaddy: Roman (German Edition)
heraus wie aus einem Zimmerspringbrunnen. Unter 20 000 Volt. Und ich fühlte mich so müde, als hätte ich drei Ironmen hintereinander absolviert. Heute war mein vierzigster Geburtstag, und ich trat in der größten deutschen Fernsehsendung auf. Aber meine Frau war in Gedanken bei jemand ganz anderem. Bei sich selbst. Wie ein Kind, das sich über die erste Eins in Deutsch freut, während gerade die Schule niederbrennt. Wie konnte Charlotte auch nur darüber nachdenken, so ein Angebot anzunehmen?
»Was ist mit Luna?«, unterbrach ich ihren Redestrom.
»Na ja, Schanzendemo halt. Ich hab ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein. Und ihr Handy mitnehmen. Falls was ist. Ich bin in Bielefeld zu einer ersten Besprechung.«
Mein Herz blieb stehen. »HEUTE?«
»Sandra passt auf die Kleinen auf. Im Wintersemester geht’s schon los, verstehst du? Wir müssen die Stellen ausschreiben, und ich hab natürlich schon ein paar Leute im Auge, Bernhard zum Beispiel.«
Ich hätte hier niemals zusagen dürfen. Und alle Vorahnungen waren berechtigt gewesen: Es gab nichts Schlimmeres als den Tag, an dem man vierzig wurde.
3
Ich hatte eine kleine fensterlose Garderobe im zweiten Untergeschoss des Congresszentrums Cottbus, ausgestattet mit einem grauen fleckigen Sofa und einem Beistelltisch, auf dem mein Catering drapiert war: eine 0,2 l-Flasche Orangensaft, vier No-Name-Schokoriegel und ein blassgrüner Apfel. Und genau dorthin hätte ich gehen sollen, um die gekürzte Fassung des Eisdielenmassakers zu üben und die drei Kolumnen zu schreiben, die ich morgen abgeben musste. Die Eröffnungsnummer für meine nächste Sendung musste ich auch dringend entwerfen. Und zumindest hätte ich endlich in Trockenobst hineinlesen sollen, um Horst Hässlette nachher irgendetwas sagen zu können. Für all das hätte ich nichts weiter tun müssen, als mich in meine Garderobenzelle zu setzen und einfach anzufangen. Stattdessen saß ich mit lauwarmem Pappbecherbeuteltee im großen Saal und folgte den Proben. Seit Stunden. Ich konnte mich einfach nicht losreißen.
Gerade stopfte sich Torben, ein schlaksiger Teenager, das zehnte Radiergummi in den Mund. Seine Wette: Er wollte fünfundzwanzig Radiergummis in seinem Mund verschwinden lassen, Lose yourself von Eminem rappen und sie dann in derselben Reihenfolge wieder ausspucken, wie er sie eingeworfen hatte. Torben sah aus wie der legendäre Marco W. aus Uelzen, und er hatte es noch kein einziges Mal hinbekommen. Der Regisseur hatte schon drei Tobsuchtsanfälle hingelegt, aber die Redaktion war der Meinung, auch ein scheiternder Radiergummischlucker würde sehr amüsant sein. Die Würde des Menschen war ausradierbar.
Noch ein Grund mehr, in die Garderobe zu gehen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich war Teil des riesigen Ameisenvolks, das heute Abend gemeinsam die Sendung fabrizieren würde, und deshalb würde ich hier wie festgeschnallt sitzen, bis der Produktionsassistent mich zur Probe des Eisdielenmassakers auf die Bühne führen würde. Wirklich?
»Nein«, sagte Vernunft-Philipp, »du wirst jetzt aufstehen und üben, weil du dich sonst den Rest deines Lebens über deinen verkorksten Auftritt ärgern wirst. Sei einmal vernünftig!«
Aber Bauch-Philipp ätzte zurück: »Klar. Als ob nicht dein ganzes Leben schon daraus bestünde, vernünftig zu sein! Du bist ja schon so vernünftig, an deinem vierzigsten Geburtstag in Cottbus aufzutreten. Um eine Karriere zu fördern, die dich eh schon total überrollt.«
»Ja ja«, sagte Vernunft-Philipp. »Schöne Ausrede. Du bist doch bloß zu faul zum Üben. Weil du Angst hast, es nicht hinzubekommen!«
»Ja gut«, sagte ich und wollte gerade aufstehen, da kam die nächste Wettkandidatin.
»Die noch!«, sagte Bauch-Philipp. »Danach lerne ich.«
Melanie wollte mit verbundenen Augen vierzig weiße Mäuse am Geruch unterscheiden. Die Mäuse hießen Sophia-Marleen und Zoe-Josefina, Zahnarztkindernamen, die auf winzigen Bändern standen, die man um die Pfoten der Tierchen gebunden hatte. Sie fiepten immerzu, und es waren ihre Haustiere. Melanie nannte jede Maus ohne Zögern. Was für eine Überraschung. Hätte ich vierzig Kinder gehabt, ich hätte sie auch am Geruch unterscheiden können. Nein, das Interessante an Melanies Wette war Melanie: Mitte zwanzig, Single, blassblaue Augen, lange, weißblonde, zu einem Zopf gebundene Haare und eine Himmelfahrtsnase, die vorne oben so einen süßen Knubbel hatte. Und aufgeworfene Lippen, die man unbedingt küssen wollte.
Weitere Kostenlose Bücher