Susan Price
vor Wulfweard stand. Er stellte den Teller auf der breiten Bank vor dem Kopf des Jungen ab. Ein leichtes Aufflackern der Augenlider war Wulfweards einzige Reaktion.
Unwin dachte nach. Er konnte einen Befehl bellen, sich hinzusetzen und zuzuhören oder den Namen des Jungen sagen und ihn fragen, ob er Hunger hatte. Was immer er auch sagte, Wulfweard würde nicht darauf reagieren. Der abweisende Gesichtsausdruck verhieß das zumindest. Also beugte Unwin sich nieder, riss die Beine des Jungen von der Bank, packte seinen Arm und richtete ihn mit Gewalt auf. Überrascht öffnete Wulfweard die Augen und erblickte seinen Bruder.
Wulfweard hätte sich von ihm abgewandt, aber Unwin packte ihn an den Schultern und drückte ihn vor sich auf die Bank. Als er sich ruhig verhielt, nahm Unwin den Brotteller, setzte sich hin und hielt ihn ihm entgegen.
Wulfweard war hungrig, und es war ohnehin alles sinnlos. Er nahm ein Stück Brot und aß.
Unwin verzog keine Miene, doch Wulfweard kannte ihn zu gut und erkannte den Triumph in seinen Gesichtszügen.
Wulfweard griff mit seiner linken Hand nach einem weiteren Stück Brot. Mit seiner Rechten suchte er zwischen ihren Körpern nach dem Dolch an Unwins Gürtel. Sie saßen so nah beieinander, dass er, wenn er die Finger um den Griff bekam, den Dolch in einer senkrechten Linie nach oben führen musste, um ihn aus der Scheide zu ziehen. Sein Arm glitt an Unwins entlang, und er sah, wie sich sein Gesichtsausdruck verhärtete.
Wulfweard sprang auf und von ihm weg und schnappte sich dabei den Dolch. Sofort griff er an, den Dolch stoßbereit. Unwin warf ihm den Teller ins Gesicht.
Wulfweard scheute zurück und schlug den Teller zur Seite, wodurch sich das alte Brot im gesamten Raum verteilte. Unwin war aufgestanden und hielt die Hände nach oben, mit den Handflächen nach außen. An seinem Gürtel hing ein Schwert, matt und unansehnlich – Wodens Versprechen. Er hatte nicht das Recht dazu. Wulfweard wechselte geschmeidig seinen Schwerpunkt, jederzeit bereit, sich auf ihn zu stürzen, und wartete auf die Lücke, die Gelegenheit, ihm den Dolch in den Körper zu treiben.
»Wulf, gib mir meinen Dolch zurück.«
Unwin sah, wie der Körper des Jungen von Schaudern geschüttelt wurde. Er starrte Unwin ins Gesicht, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. Unwins sanft klingende Stimme hatte viele Erinnerungen an vergangene Freundlichkeiten geweckt. Sein Arm, der eben noch bereit war, den Dolch einzusetzen, verlor nun seine Kraft.
»Wulf, was ist los mit dir?« Eine Frage, die er ihm schon mehrfach gestellt hatte.
»Du schuldest mir ein Leben! Du hast meinen Bruder getötet!« Er wollte den Dolch verwenden, um Unwin zu verletzen, schreckte aber im letzten Moment immer wieder zurück. Der Druck der sich widersprechenden Gefühle ließ ihn erzittern, und sein Atem ging in schweren, unregelmäßigen Stößen.
Die Haut auf Wulfweards Gesicht war so angespannt, so bleich, dass der Umriss seiner Lippen zu verblassen schien, während seine Augen dunkler wirkten und ihn fixierten. Unwin hob seine Hände noch höher, denn er kannte die blinde Wut, die keine Schmerzen kannte. Wodens Wut hätte er sie genannt, wenn er ein Heide wäre. Er wusste, dass er sehr vorsichtig vorgehen musste.
»Wulf, du bist jetzt sehr wütend auf mich. Aber das wird vorübergehen.«
Der Junge griff ihn an.
Unwins Körper hatte so viele Übungsstunden hinter sich, dass er instinktiv reagierte, aber dennoch war seine Bewegung nicht schnell genug, und es hätte ihn fast das Leben gekostet. Die Dolchspitze durchstieß seine Tunika und seine Haut, prallte an einer Rippe ab und verursachte eine schwer blutende Wunde. Der Schwung des Angriffs hatte Wulfweard vorbeistürmen lassen, und Unwin folgte ihm sofort, um ihn in den Schwitzkasten zu nehmen. Mit der freien Hand packte er die Dolchhand Wulfweards.
Wulfweard stieß sich mit den Füßen vom Rand der Wandbank ab und warf sein gesamtes Gewicht nach hinten, was Unwin aus dem Gleichgewicht brachte. Er fiel und riss dabei Wulfweard mit sich, ließ aber nicht los – instinktiv packte er noch fester zu. Er rollte sich auf ihn und nutzte sein größeres Gewicht, um den Jungen auf dem Boden festzunageln. Er löste den Arm von Wulfweards Hals und benutzte beide Hände, um den Daumen des Jungen zurückzubiegen und ihm den Dolch zu entreißen. Dann warf er ihn in die gegenüberliegende Ecke.
Unwin atmete tief ein, denn er glaubte, der Kampf wäre vorbei, doch Wulfweard wand sich
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