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Susan Price

Susan Price

Titel: Susan Price Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Elfling Saga
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vergangener Jahrhunderte. Sein Stamm war so weit vom Feuer entfernt, dass er im Schatten lag, und so breit im Durchmesser, dass ihr das, was sie sehen konnte, als flache graugrüne Mauer erschien. Der Gestank des Unrats war verschwunden. Nun stieg ihr der Duft von feuchter Erde, alten Blättern, Wasser und Moos in die Nase.
    Ein ständiges Rauschen und Knistern, Knarzen und Ächzen ging von dem Baum aus. Unter sich spürte sie das Heben und Senken der Erde, als die riesigen Wurzeln an ihr zerrten. Sie erkannte den Baum sofort: Niemand konnte ihn sehen und hören und riechen, ohne ihn zu erkennen – Odins Ross, der Baum, an dem er hing, der Weltenbaum. So aufmerksam betrachtete sie die wechselnden Muster aus Feuerschein und Dunkelheit zwischen den Blättern, und so entschlossen lauschte sie dem Baumlied, dass sie die große blutverschmierte Gestalt neben dem Feuer fast nicht sah.
    Nur am Rande nahm sie wahr, wie das flackernde Licht über die angespitzten Pfähle und steilen Grabenwände tanzte.
    »Hol meine Trommel«, sagte Ud und wies ihr den Weg.
    An einer der riesigen Baumwurzeln lehnte eine Trommel. Ebba schritt knietief durch raschelnde Blätter und entlockte ihnen den Duft von Lehm und Pilzen. In der Nähe der Trommel entdeckte sie das Glitzern dunklen Wassers. Unter der Wurzel lag ein tiefer, dunkler Teich, und daneben lag der Kopf eines Manns. Nichts außer dem Kopf, aber er wirkte wie lebendig. Die Augen bewegten sich und betrachteten sie eindringlich, als sie sich nach der Trommel bückte.
    Sie schnappte sie sich, rannte über die knirschenden Blätter zurück zu Ud und versteckte sich hinter ihm.
    Er nahm die Trommel und lehnte sie an sein Knie. Sie war flach, nur Haut, die über einen ovalen Rahmen gespannt war. Ein Knochenhammer war an einem Lederband daran befestigt, und damit schlug Ud den Rhythmus für das Baumlied.
    »Die dornenberankte Heide dein letztes Ziel wird sein …« Hohe Berge zeichneten sich vor einem schwarzen Himmel ab und beugten sich über das schmale dornige Tal, durch das er sich quälte. In der Dunkelheit glitten unsichtbare Dornen über seine Haut und entlockten mit kaltem Stich seinem Körper Blut. Die einzigen Geräusche entstammten seinen Bewegungen. Nicht eine Eule schrie, nicht ein Fuchs jaulte.
    Dann rief ihn die Trommel. Lange Zeit stand er einfach nur da und hörte zu, und dann folgte er ihrem Klang in der Dunkelheit, über Fels und an Dornen vorbei.
    Die Hitze des Feuers ließ den Gestank des Unrats noch schlimmer werden. Ebba kauerte neben Ud, während er in die Hände klatschte und sang.
    »Neun lange Nächte ritt ich mein Pferd mit dem Wind; von meinem Speer getroffen ritt ich weiter. Niemand speiste mich; niemand gab mir zu trinken. Ich ergriff die Runen und fiel schreiend zurück –«
    Er schrie, und Ebba umschlang die Knie mit den Armen und senkte den Kopf und hoffte, die Geister, die sich jenseits des Feuerscheins in der Dunkelheit versammelten, würden sie nicht sehen.
    »Ich kenne eine Rune: Sie nimmt den Schmerz, sie heilt Krankheiten, sie macht wieder ganz. Selbst den Schmerz der Trauer und Sehnsucht lindert sie! Ihr Name ist –« Ud beugte sich direkt über die Leiche und flüsterte in ihr Ohr. Dann hob er den Kopf und lachte lange und laut in die Dunkelheit hinein.
    Das Lachen verwirrte Ebba, und sie sprang auf und schaute sich um, versuchte, die Dunkelheit am Rand des Grabens über ihnen mit ihren Blicken zu durchbohren. Zu einer solchen Zeit, an einem solchen Ort, klang Lachen wie Wahnsinn.
    »Ich kenne eine zweite Rune: Jeder Mann, der heilen will, muss sie kennen – nur ich kann sie lehren! Der Name dieser Rune ist –« Und wieder beugte sich Ud zum Ohr der Leiche hinab, und als er sich wieder aufrichtete, lachte er laut auf.
    Das Trommelgeräusch verlor sich fast in einem durchdringenden stetigen Lärm, der dem Wogen der See oder Regen ähnelte, der nach seinem langem Weg durch Windstöße endlich auf harten Boden prallt. Er erkannte es als das Rascheln des Winds durch einen Wald: das Heben und Senken unzähliger Blätter und das Knarzen der Äste, das Ächzen der Bäume.
    Der Schein eines Lagerfeuers erhellte die Dunkelheit, und dessen Flammen enthüllten keinen Wald, sondern nur eine einzelne gigantische Esche.
    Eine Wurzel bahnte sich ihren Weg durch das herabgefallene Laub, und er musste sie wie einen Berghang erklimmen, indem er seine Füße in die tiefen Furchen der Rinde stemmte. Er spürte, wie die Wurzel unter ihm in dem Versuch pulsierte,

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