Susannah - Auch Geister koennen kuessen
schließen, dass Geister auch nicht aus Materie gemacht sind. Ich hätte ihn gar nicht anfassen können dürfen. Meine Hand hätte durch ihn hindurchgreifen müssen. Richtig?
Falsch. So geht es den meisten Leuten. Aber nicht Leuten wie mir. Nicht uns Mittlern. Wir können Geister sehen, mit ihnen sprechen und ihnen notfalls buchstäblich in den Hintern treten.
Aber darüber rede ich nicht gern. Ich versuche, es nach Möglichkeit zu vermeiden, Geister anzufassen – übrigens auch lebende Personen. Es gibt Fälle, wo alle Versuche der verbalen Vermittlung fehlschlagen und ich bei einem besonders unverschämten Toten handgreiflich werden muss, und dann ist es besser, wenn die Betreffenden vorher nicht wissen, dass ich das kann. Im Umgang mit Wesen aus der Unterwelt ist es immer ratsamer, einen Überraschungsangriff zu starten, denn die Typen sind normalerweise fiese, geübte Kämpfer.
Jesse starrte seinen Finger an, als hätte ich ein Loch reingebrannt, und war sichtlich außerstande, etwas zu sagen. Wahrscheinlich war es das erste Mal seit hundertfünfzig Jahren, dass jemand ihn berührt hatte. So was kann einen Kerl schon ganz schön mitnehmen. Vor allem einen toten Kerl.
Ich beschloss, seine Verblüffung zu meinem Vorteil auszunutzen. »Also, Jesse«, sagte ich so streng und unnachgiebig wie möglich. »Das hier ist mein Zimmer, verstanden? Du kannst nicht hierbleiben. Entweder du lässt dir von mir helfen, dahin zu kommen, wohin du gehörst, oder du suchst dir zum Rumspuken ein anderes Haus. Tut mir leid, aber so sieht's aus.«
Endlich wandte er den Blick von seinem Finger ab. In seinem Gesicht lag immer noch der blanke Unglaube. »Wer bist du?«, fragte er leise. »Was … was für eine Art … Mädchen bist du?«
Er zögerte vor dem Wort »Mädchen« lange, als wäre er sich absolut nicht sicher, ob das Wort überhaupt auf mich zuträfe. Das irritierte mich. Ich meine, ich war zwar nie das beliebteste Mädchen der Schule gewesen, aber dass ich ein Mädchen war, daran hatte keiner je gezweifelt. Ab und zu hupen mich Lastwagenfahrer an, und das nicht, weil sie mich aus dem Weg haben wollen. Von Bauarbeitern muss ich mir manchmal ganz schön anzügliche Sachen anhören, vor allem wenn ich meinen Ledermini anhabe. Ich bin weder hässlich noch besonders maskulin noch sonst irgendwas. Okay, ich hatte ihm angedroht, ihm den Finger zu brechen, aber das hieß doch noch lange nicht, dass ich kein Mädchen war, verdammt!
»Ich werd dir sagen, was für eine Sorte Mädchen ich jedenfalls nicht bin«, stieß ich säuerlich hervor. »Ich bin kein Mädchen, das Wert darauf legt, sich das Zimmer mit einem Mitbewohner des anderen Geschlechts zu tei len. Capito? Also entweder du gehst freiwillig oder ich schmeiß dich raus. Du hast die Wahl. Ich geb dir Zeit, dich zu entscheiden. Aber wenn ich nachher wieder reinkomme, möchte ich, dass du weg bist, Jesse.«
Damit wirbelte ich herum und ging aus dem Zimmer.
Anders wäre es nicht gegangen. Normalerweise ging ich aus Streitgesprächen mit Geistern nicht als Verliererin hervor, aber diesmal hatte ich das Gefühl, dass das anders ausgehen könnte. Ich hätte nicht so kurz angebunden und unfreundlich mit ihm umgehen sollen. Ich konnte mir selber nicht erklären, was in mich gefahren war, ehrlich nicht. Ich hatte nur …
Ich hatte wohl einfach nur nicht damit gerechnet, so einen süßen Typen als Geist in meinem Zimmer vorzufinden, das war alles.
Mann, Mann, Mann!, dachte ich, während ich die Treppe hinunterstürmte. Was mach ich, wenn er nicht verschwindet? Ich kann mich nicht mal mehr in meinem Zimmer umziehen!
Lass ihm ein bisschen Zeit, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Eine Stimme, von der ich der Psychotherapeutin meiner Mutter wohlweislich nie was erzählt hatte.
Lass ihm ein bisschen Zeit. Er macht das schon. Das tun sie doch am Ende immer.
Oder zumindest meistens.
KAPITEL
4
D ie Abendessen im Hause Ackerman unterschieden sich nicht allzu sehr von Mahlzeiten, die ich in anderen großen Familien miterlebt hatte: Alle redeten durcheinander – mit Ausnahme von Schlafmütz natürlich, der nur dann den Mund aufmachte, wenn er was gefragt wurde – und hinterher wollte keiner den Tisch abräumen. Ich nahm mir vor, Gina anzurufen und ihr zu sagen, dass sie unrecht gehabt hatte: Ich konnte Brüdern nichts Positives abgewinnen. Sie kauten mit offenem Mund und verschlangen ausnahmslos alle frisch gebackenen Brötchen, bevor ich auch nur die Chance gehabt hatte, mir
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