Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Eindruck von neuen Korridoren und unzähligen Räumen. Ein Fahrstuhl brachte sie langsam und quietschend ins vierte Stockwerk hinauf. Oben ging es wieder durch einen langen Gang. Endlich öffnete Fräulein Mason die Tür eines kleinen, sehr behaglich eingerichteten Zimmers, in dem ein Bett, eine Kommode, ein Schreibtisch und zwei bequeme Sessel standen.
»Dies ist Ihr Zimmer, Fräulein Barden«, sagte sie lächelnd. »Ihr Gepäck wird bald eintreffen. Das Essen für die Probeschwestern findet um halb sieben statt. Jemand wird Sie abholen und in den Speisesaal führen. Um acht Uhr wird Fräulein Matthes, die Leiterin der Schwesternschule, die neue Klasse unten im Wohnzimmer begrüßen. Bis dahin können Sie tun und lassen, was Sie wollen.«
Sie nickte Susy noch einmal zu, ehe sie verschwand.
Susy nahm ihren Hut ab und ließ sich aufs Bett fallen. Sie hatte das Gefühl, auf einer einsamen Insel ausgesetzt worden zu sein, die nur aus stillen Räumen, stillen Korridoren und verlassenen Zimmern bestand.
»Hallo«, sagte plötzlich eine Stimme. »Eine neue Probeschwester?«
Susy wandte den Kopf zur Tür und erblickte ein schlankes dunkelhaariges Mädchen in grauer Tracht.
»Ja, das bin ich«, antwortete sie schüchtern und stand auf.
»Angst?«
»Nicht direkt. Muß man Angst haben?«
»Nicht mit roten Haaren. Die werden Ihnen alle Wege erleuchten.«
Susy war noch zu jung, um nicht empfindlich gegen eine solche Hänselei zu sein. Einen Augenblick verdunkelten sich ihre braunen Augen. Dann lächelte sie. »Wollen Sie nicht hereinkommen?«
Die Schwester trat ins Zimmer und ließ sich auf dem Bett nieder. »Hat Oma Sie hergebracht?«
»Oma? Ach, Sie meinen Fräulein Mason. Ja, sie führte mich her.«
Die Schwester lachte. »Sie ist eine gute Seele. Alle haben sie gern.«
»Sind schon andere Probeschwestern angekommen?« fragte Susy.
»Ja, eine Menge. Das Haus wimmelt von ihnen. Die Klasse ist diesmal sehr groß. Das gibt wieder viel Ärger.«
Susy setzte sich auf einen Sessel. »Warum denn?«
»Ach, die neuen Probeschwestern sind immer solch gescheite und ernsthafte kleine Mädchen, die dauernd zur Oberschwester laufen. Hat man ihnen nicht ausdrücklich gesagt, daß es verboten ist, auf der Station zu essen? Gilt das Verbot nicht für Station Soundso? Dort essen die Schwestern nämlich. Das ist dann so angenehm für die Schwestern auf der betreffenden Station.«
»Darf man auf der Station nicht essen?« fragte Susy erstaunt.
»Nein. Wenn man dabei erwischt wird, kostet es fünfzig Cents
Strafe. Für die Probeschwestern ist das sehr hart, denn sie sind in der ersten Zeit immer schrecklich hungrig. Es muß wohl von der Umstellung kommen. Und dann schwatzen sie unaufhörlich. Sie tratschen durchs ganze Haus, was sie lieber für sich behalten sollten.«
»Sprechen Sie im Namen des Schwesternschutz Verbandes?«
»Sie können es ruhig so auffassen.« Die Schwester stand lachend auf. »Na, ich muß gehen. Auf der Station wird wieder der Teufel los sein. Bestimmt gibt es Neuaufnahmen. Es muß gespritzt, gekurvt und gebettet werden.«
Mit diesen geheimnisvollen Worten verschwand sie. Susy blieb ziemlich verwirrt zurück. Du meine Güte! Das klang ja wie eine fremde Sprache. Würde sie sie jemals verstehen? Zwei Männer in blauen Overalls brachten ihr Gepäck. Susy packte aus und räumte ihre Sachen ein. Ehe sie sichs versah, war der Nachmittag vergangen. Hin und wieder schlenderten einzelne Mädchen an ihrer offenen Tür vorüber und lächelten scheu, ohne etwas zu sagen. Wahrscheinlich waren es ebenfalls neue Probeschwestern. Eines Tages würde Susy sie ebensogut kennen wie ihre eigene Familie.
Schließlich war Susy mit Auspacken fertig, und alles lag ordentlich an seinem Platz. Sie legte eins der zu ihrer Ausstattung gehörenden blauen Kleider über einen Stuhl, vorläufig nur zum Ansehen; denn man hatte ihr nicht gesagt, wann sie die Tracht anlegen sollte. Dann ging sie in ein Badezimmer auf der anderen Seite des Korridors, badete gemächlich und machte sich zum Essen fertig.
Um Viertel nach sechs war noch niemand gekommen, um sie abzuholen. Sie beschloß, in das Wohnzimmer hinunterzugehen und dort zu warten.
Das Wohnzimmer war leer. Susy hörte Stimmen, Schritte und Gelächter vor der Tür, aber niemand ließ sich sehen.
Es war gleich halb sieben. Wahrscheinlich hatte man sie vergessen. Sie wollte allein zum Speisesaal gehen. Gewiß würde sie unterwegs jemand treffen, der ihr den Weg zeigte.
Als sie das
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