Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
gewandt.
Es kam keine Antwort.
Am Tage vor Weihnachten herrschte ungewöhnliche Geschäftigkeit im Krankensaal. Susy hatte überhaupt keine Zeit, Heimweh zu empfinden. Sie hätte einem solchen Gefühl auch keinesfalls nachgegeben. Da gab es zu viele Gesichter, auf die sie ein Lächeln zaubern wollte, zu viele Augen, die darauf warteten, einmal aufleuchten zu können.
Susy kam erst ziemlich spät von der Station fort. Sie lief rasch in ihr Zimmer, zog eine frische Tracht an und machte sich auf den Weg zur großen Halle, in der die Vorstellung der Assistenzärzte stattfinden sollte. Kit hatte einen Zettel hinterlassen. Sie war mit Connie vorausgegangen und wollte einen Platz für Susy freihalten.
Susy benutzte den Lift, um ihren müden Füßen die Treppe zu ersparen. Haus Brewster schien vollkommen verlassen zu sein. Auch in dem breiten, hell erleuchteten Ziegelkorridor zu ebener Erde war niemand zu sehen. Susy beschleunigte ihre Schritte. Aber plötzlich blieb sie stehen. Leise, jedoch klar drang eine vertraute Melodie an ihr Ohr. Die Liedersänger aus der Stadt waren eingetroffen.
Auf der linken Seite des Ganges führte eine Doppeltür ins Freie. Die blanken Messinggriffe fühlten sich eiskalt an. Susy trat hinaus und schloß die Tür sorgfältig hinter sich. Sie hatte die Vorstellung der Assistenzärzte vollkommen vergessen.
Zunächst konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Aber deutlich hörte sie nun die Worte des alten Liedes, das aus vielen Kehlen zum nächtlichen Himmel emporstieg.
Stille Nacht, heilige Nacht,
Alles schläft, einsam wacht,
Nur das traute hochheilige Paar,
Holder Knabe im lockigen Haar ...
Susys Atem wurde zu einer weißen Wolke. Ihre Augenlider schmerzten vor der Kälte der Schneeflocken, die sich darauf niederließen. Sie trat unter das schützende Dach zurück und blickte angestrengt durch den fallenden Schnee. Am anderen Ende der Rasenfläche unter den Fenstern des ältesten Gebäudes der Anstalt bewegten sich dunkle Gestalten. Über dem gewaltigen Bau mit den dicken Mauern wölbte sich die große Kuppel. Susy wußte, daß hinter den langen Reihen spärlich erleuchteter Fenster unzählige leidende Menschen reglos in ihren Betten lagen und nach draußen lauschten.
Schlaf in himmlischer Ruh.
Wenn sie das nur könnten! dachte Susy.
Zärtlich ruhten ihre Augen auf den alten Mauern. Ein Jahrhundert hatten sie den Kranken Wärme und Schutz geschenkt. Unter dieser Kuppel waren jahrzehntelang Mädchen wie sie selber mit schmerzenden Füßen und müden Rücken an der Seite junger Ärzte darum bemüht gewesen, Schmerzen zu lindern.
Stille Nacht, heilige Nacht ...
Die Tür neben Susy tat sich auf. Eine weißgekleidete Gestalt trat mit langen federnden Schritten in die Dunkelheit hinaus und blieb vor dem alten Bau stehen. Susy betrachtete ehrfurchtsvoll das stolze Haupt, das sich von der grauen Mauer abhob. Der lautlos fallende Schnee verwischte die Linien von Fräulein Camerons Figur und ließ ihre herben Züge weicher erscheinen. Das dunkle Gebäude des Krankenhauses, dem sie so viele Jahre hindurch mit Liebe und Eifer gedient hatte, blickte ebenso streng und ernst wie sie selber.
Beide sind von dem gleichen Geist beseelt, dachte Susy, während ihr Blick von der weißen Gestalt zu dem Gebäude dahinter glitt. Sie nehmen uns bei sich auf, jung und töricht wie wir sind, Hunderte von uns, viele Jahre hindurch. Wenn sie uns dann wieder in die Welt hinausschicken, tragen wir ihren unauslöschbaren Stempel, und ihre Kraft steht für alle Zeiten hinter uns.
Die letzten Worte des schönen alten Weihnachtsliedes verklangen. Susy öffnete leise die Tür und schlüpfte in den warmen Korridor. Als sie zurückblickte, stand Fräulein Cameron noch immer auf derselben Stelle, halb verborgen von den wirbelnden Schneeflocken. Ergriffen flüsterte Susy: »Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
Connies Geheimnis
Die große Halle war strahlend hell erleuchtet. Susy schlug das Stimmengewirr einer zahlreichen Menschenmenge entgegen, als sie durch die Tür trat. Sie blieb stehen und suchte die Stuhlreihen nach Kit und Connie ab. Der größte Teil des Publikums trug Dienstkleidung. Es war nicht leicht, aus der gleichförmig gekleideten Menge jemand herauszufinden. Die einzigen, die Zivil trugen, waren die Verwaltungsbeamten mit ihren Frauen und ein paar Schwestern, die am Nachmittag frei gehabt hatten.
Links, neben der Treppe, die zu den Wohnräumen der Hausärzte hinaufführte, sah
Weitere Kostenlose Bücher