Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
man ein kleines Orchester, das aus fünf Musikern bestand. Es gab keine Bühne und auch keinen Vorhang. Die Halle sah genau so aus wie sonst.
Nach einigem Suchen entdeckte Susy einen grau bekleideten Arm mit weißer Manschette, der ihr aus der Mitte der vierten Reihe zuwinkte. Kits lange Finger waren nicht zu übersehen. Susy zwängte sich an fremden Knien vorbei und trat auf verschiedene Füße, deren Eigentümer allerlei spitze Bemerkungen machten. Endlich erreichte sie den freien Platz und ließ sich aufatmend zwischen Kit und Connie nieder.
»Warum hast du nicht einen Platz ausgesucht, der schwieriger zu erreichen war?« fragte sie Kit. »Du weißt doch, daß ich den Ehrgeiz habe, auf so viele Füße wie möglich zu treten.«
»Dann mußt du aber noch fleißig üben«, antwortete Kit. »Ich habe genau gesehen, daß du drei Füße ausgelassen hast.« Sie stieß Susy mit dem Ellenbogen an, während sie sprach und deutete verstohlen auf Connie, die ein wenig abwesend nur »Hallo« gesagt hatte und dann in dumpfe Teilnahmslosigkeit verfallen war.
»Was ist denn nun wieder mit ihr los?« fragte Susy leise.
»Ich weiß nicht. Vorhin bebte sie vor Aufregung, und jetzt ist sie wie bewußtlos. Es hat keinen Sinn, sie anzusprechen. Beachte sie nicht.«
Susy drehte sich um und betrachtete das Publikum.
»Donnerwetter! Heute ist ja das ganze Haus versammelt. Es fehlen nur noch die ägyptischen Mumien aus dem Kuppelsaal.«
»Ja, sogar Dr. Marston ist erschienen. Dort hinten sitzt er. Fräulein Cameron setzt sich gerade neben ihn.«
Susy reckte den Hals. Einen Augenblick sah sie Fräulein Came- ron und neben ihr die breiten Schultern und den Spitzbart des hohen Chefs. Aber schon wurde ihr die Aussicht durch eine Schwester verdeckt, die sich vorbeugte, um mit jemand zu sprechen.
Susy wandte sich wieder Kit zu. »Hätte ich mich doch in Gala geworfen! Denk nur, er strich sich selbst in dieser Volksmenge den Bart gegen den Strich.«
»Er soll es sogar im Schlaf tun, wie man sagt. Es bedeutet irgend etwas. Leider habe ich vergessen, was.«
»Das sieht dir ähnlich.«
Kit kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben, denn in diesem Augenblick wurde es plötzlich still im Saal. Ein kleiner pausbäckiger Hausarzt, der erst kürzlich an das Krankenhaus verpflichtet worden war und die Rolle des sogenannten »Babys« spielte, erschien aus einer Tür am Fuß der Treppe. Er trug ein großes Plakat, das er ein wenig verlegen dem Publikum zeigte. Darauf stand: »Erste Nummer: Ein Banjokonzert, gespielt von Dr. Patrick Gliessen.«
Das Publikum klatschte Beifall. Darauf hielt der Hausarzt eine Ansprache. Er war hochrot im Gesicht, und seine Stimme zitterte merklich.
»Meine Damen und Herren! Wir - wir bedauern, daß es hier keinen Vorhang gibt, aber - gewisse Umstände - machen das leider unmöglich. Während des Szenenwechsels wird das - die Beleuchtung ausgehen. Das Publikum wird gebeten, nicht - gebeten, nicht - nein! - ersucht, zu bleiben, wo es ist!« endete er hastig und floh davon.
Nun kam Dr. Gliessen, sehr blond und sehr selbstsicher, mit einem Banjo in der Hand die Treppe heruntergeschritten, setzte sich auf einen Operationsstuhl und spielte einen schnellen und an Disharmonien allzu reichen Tango, der von dem Orchester begleitet wurde.
»Das war nicht besonders«, bemerkte Kit, während der Beifall aufrauschte. »Haben die nichts Besseres zu bieten?«
Connie beugte sich ein wenig vor und erwiderte scharf:
»Warte doch ab! Sie haben ja erst begonnen.«
Kit sah sie erstaunt an.
Susy las das neue Plakat, das von dem »Baby« vorbeigetragen wurde.
G eringer als der S taub
Ein Singspiel Dr. Ronald Benton mit dem Chor
Ein berühmter Chirurg, dargestellt von Dr. Wilhelm Barry
»Connie hat recht«, sagte Susy. »Man soll niemals vorschnell urteilen. Vielleicht wird es noch ganz nett.«
Das Licht ging aus. Das Publikum wurde unruhig und plauderte. Nach einer Weile wurde es wieder hell, und man erblickte die große breitschultrige Gestalt von Dr. Barry, der ein Stück von der Treppe entfernt stand.
Seine Haltung war stolz und unnahbar. Er hatte einen langen weißen Mantel an, wie ihn die Stabsärzte bei ihrer Visite trugen. Ein Schnurrbart und ein Spitzbart veränderten sein Gesicht sehr. Als er mit einer nachdenklichen Geste die Rechte hob und sich durch den Bart fuhr, brach das Publikum in lautes Gelächter aus. Alle sahen sich nach Dr. Marston um, der ein wenig rot geworden war, aber dennoch huldvoll
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