Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
Geben Sie der Patientin ein Viertel Morphium anstatt ein Sechstel. Und rufen Sie mich bitte, falls sie nicht schläft.«
»Ja, gewiß.« Susy sprang auf den Fußboden, die Decke im Arm. »Aber ich werde sie schon dahin bringen zu schlafen, ohne Sie noch einmal aus dem Bett holen zu müssen.«
»Das glaube ich.« Er sah sie ein wenig besorgt an. »Sie sehen auch müde aus.« Dann lachte er plötzlich. »Sie müßten heute nacht ein Paar Rollschuhe haben.«
»Keine schlechte Idee«, entgegnete Susy. »Aber ein Roller wäre noch besser. Rollschuhe haben nichts für mich übrig. Sie laufen mir immer davon.«
Beide lachten. Plötzlich zog sich Susys Herz zusammen, und ihr stockte der Atem. Fräulein Ellison stand in der Tür des Wäschezimmers.
»Guten Morgen, Dr. Lake«, sagte sie. Und dann zu Susy: »Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen, Schwester Barden.«
Dr. Lakes weißer Kittel verschwand in der Dunkelheit. Susy folgte der Oberschwester in den Saal, die Hände in die Wolldecke verkrampft. Am Schreibtisch wandte die Oberschwester sich zu ihr um. Susy preßte die Decke gegen ihr wild schlagendes Herz.
Fräulein Ellisons Augen waren schwarz und kalt. »Es wäre ratsam, wenn Sie sich ein wenig um die Patienten kümmerten«, sagte sie eisig. »Ich kann eine derartige Vernachlässigung nicht dulden. In einer schwierigen Nacht wie der heutigen ist keine Zeit, im Wäschezimmer mit Hausärzten zu plaudern.«
»Aber ich plauderte doch gar nicht, Fräulein Ellison«, versuchte Susy sich zu verteidigen. »Dr. Lake kam, um .«
»Sie können sich jedes weitere Wort ersparen. Ich hörte einen Teil Ihrer Unterhaltung mit an. Das genügt mir.« Als Fräulein Ellison bemerkte, daß Susys Gesicht weiß wie ein Laken war, fuhr sie ein wenig sanfter fort: »Dies ist Ihr erster Nachtdienst, und Sie sind noch sehr jung. Ich glaube gern, daß Sie guten Willens sind, aber Sie haben noch viel zu lernen. Hoffentlich bessern Sie sich, damit ich Sie nicht noch einmal zu tadeln brauche.«
»Ja, Fräulein Ellison.«
Susy fühlte sich gefangen und wehrlos. Wie kam es nur, daß alles schiefging, obwohl sie sich solche Mühe gab? Früher war ihr jede Sache fast mühelos gelungen, aber jetzt konnte sie plötzlich überhaupt nichts mehr richtig machen. Was hatte es für einen Zweck, sich anzustrengen, wenn alles mißlang? Die Ursache von Susys »Pechsträhne«, wie sie es bei sich nannte, lag darin, daß sie es bisher gar nicht nötig gehabt hatte, besondere Anstrengungen zu machen. Sie war noch zu jung, um das erkennen zu können. Wohl hatte sie den besten Willen, gut zu arbeiten. Aber bisher war ihr alles zu leicht gefallen. Die Tatkraft, die sie jetzt so nötig brauchte, schlummerte noch unerweckt in ihr. Sie glaubte, sich Mühe zu geben, während ihr Wille sich in dem Wunsch verausgabte, Gutes zu leisten.
Als Susy in der letzten Nacht einen Verband erneuerte, bimmelte am anderen Ende des großen Saales eine Glocke.
»Da will einer was von Ihnen, Schwester«, sagte die Patientin.
»Es ist Frau Harper«, antwortete Susy, während sie nach neuer Gaze griff. »Was mag sie nur wollen? Ich habe sie doch vor kurzem versorgt. Na, sie ist gesund genug, um aufstehen zu können. Ich kann Sie jetzt unmöglich so liegenlassen.« Susys Hände flogen. Nachdem der neue Verband fertig war, zog sie sorgsam die Kissen zurecht, um das Zerren der entzündeten Muskeln zu mildern. Dann richtete sie sich auf und wollte zu Frau Harper gehen. In diesem Augenblick schrillte das Telefon wie ein scharfer Befehl durch die Stille des Saales. Susy durfte es nicht klingeln lassen. Sie eilte zum Schreibtisch und hob den Hörer ab. »Station 27, Schwester Barden.«
»Hallo Susy!« ertönte die muntere Stimme von Elfe Holton, die auf der Unfallstation Dienst hatte. »Wir schicken Ihnen einen Unfall - Schädelbruch. Die Patientin ist bewußtlos.«
»Gut, gut«, antwortete Susy. »Ich habe sowieso nichts zu tun.«
Wieder bimmelte Frau Harpers Glocke. Susy legte den Hörer hin und lief zum Wäschezimmer, um Wolldecken zu holen. Frau Harper mußte sich ein wenig gedulden. Die Verunglückte, die bereits auf dem Weg zur Station war, ging vor. Susy konzentrierte ihre Gedanken darauf, was sie für die neue Patientin brauchte.
Sie machte in Windeseile ein Bett zurecht, als Frau Harpers Glocke wieder ertönte, diesmal schon ungeduldiger und lauter. Kaum zu glauben, was für einen Lärm solch eine kleine Glocke machen konnte! Patienten, die das Geräusch von Schritten
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