Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
nach einigen Minuten fiel ihr die Ursache dafür ein.
Sie beschloß, auszugehen und ein wenig frische Luft zu schöpfen. Aber trotz des hübschen Anblicks der winterlichen Straßen blieb ihre Stimmung gedrückt. Sie wußte kaum, wo sie ging. Plötzlich rief eine Stimme hinter ihr: »Na, so was! Ist das nicht Schwester Barden?«
Teilnahmslos wandte sie sich um. »Guten Tag, Dr. Barry.« Er sah sehr groß und sehr hübsch in Zivil aus und strahlte sie aus seinen blauen Augen an. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Er hielt sie für eine gute Krankenschwester. Keinesfalls wollte sie ihm erzählen, was sich ereignet hatte. Sie nahm sich zusammen und brachte mühsam ein Lächeln zustande.
Er blickte erstaunt in ihr blasses Gesicht. »Nanu? Sie sehen ja ganz erfroren aus. Sie sollten ...« Er zögerte ein wenig und sagte dann bestimmt: »Sie müssen etwas Warmes trinken. Dort drüben ist eine Teestube. Wollen wir nicht hineingehen?«
Susy willigte dankbar ein. Hier war ein Freund, jemand, der an sie glaubte, und dessen fröhliche Laune sie aus dieser fürchterlichen kalten Trübsal reißen würde. Weiter dachte sie nichts.
Die beiden schlenderten plaudernd über die Straße. Die matte Wintersonne verfing sich in Susys roten Haaren. Dr. Barrys Augen waren sehr blau, als er auf seine Begleiterin hinunterblickte. Susy bemerkte nur, wie einladend die Teestube aussah. Dr. Barry öffnete die Tür, und sie gingen hinein.
Keiner von ihnen sah das runde Gesicht und die entsetzten Augen von Fräulein Mason, der stellvertretenden Leiterin der Schwesternschule, die sie aus dem Fenster eines vorbeifahrenden Straßenbahnwagens beobachtete.
Dr. Barry war sehr unterhaltend, und Susys natürliche Heiterkeit begann bald wieder die Oberhand zu gewinnen. Sie befand sich in der allerbesten Stimmung, als Dr. Barry ihr in ein Taxi half und dem Fahrer die Adresse des Krankenhauses nannte. »Ich muß noch allerlei einkaufen«, erklärte er. »Schlipse und solche Sachen.«
Sie lachte. Der Wagen holperte durch die vereisten Straßen. Vielleicht war alles nicht so schlimm, wie sie sich eingebildet hatte. Susy lächelte noch, als sie die Stufen zu Haus Brewster hinauflief. In der Halle blieb sie einen Augenblick stehen, um nachzusehen, ob Post für sie gekommen war. Auf dem Posttisch lag ein weißer Briefumschlag mit ihrem Namen. Er trug weder eine Poststempel noch eine nähere Anschrift. Nur ihr Name stand darauf.
Sie öffnete ihn verwundert. Plötzlich wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Starr vor Schrecken las sie:
»Schwester Barden wird gebeten, sich um sechs Uhr abends bei Fräulein Matthes zu melden.«
Ein reizender Abend
Kit und Connie saßen bereits am Tisch, als Susy um halb sieben in den Speisesaal kam. Sie bemerkten nicht, daß sie ungewöhnlich still war, denn sie führten gerade ein hitziges Streitgespräch mit Luise Wilmont. Ein Disput mit Luise erforderte ungeteilte Aufmerksamkeit, um schlagende Beweise zu finden, und große Selbstbeherrschung, um die Ruhe nicht zu verlieren.
Susy beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Sie war sehr blaß, und ihre Hand zitterte, während sie abwesend mit ihrem Löffel spielte.
»Wenn Sie keine Opfer bringen wollen, dürfen Sie nicht Krankenschwester werden«, sagte Luise.
»Von nicht wollen war gar nicht die Rede«, antwortete Kit. »Ich fragte nur: Warum eigentlich? Für Fräulein Bicker ist es leicht, in ihren Stunden über Ethik schön klingende Reden darüber zu halten, daß in jedem Fall zuerst an den Patienten gedacht werden müsse. Aber Krankenpflege ist schließlich ein Beruf wie jeder andere. Sucht jemand einen Rechtsanwalt auf und fängt plötzlich in dessen Büro an, den Verrückten zu spielen, so wird kein Mensch es dem Rechtsanwalt verübeln, wenn er davonläuft und die Polizei holt. Er ist keineswegs verpflichtet, seinen Klienten vor einem Sturz aus dem Fenster zu bewahren und sich dabei blau und grün schlagen zu lassen.«
»Nein, er ist nicht dazu verpflichtet«, entgegnete Luise hitzig. »Aber er sollte es tun, schon aus Gründen der Menschlichkeit.«
»Da sind wir wieder mal bei der guten alten Humanität angelangt«, bemerkte Kit grinsend.
Bevor Luise sich weiter über Humanität auslassen konnte, sagte Hilda Grayson schüchtern: »Das ist doch etwas ganz anderes. Der Mann bezahlt den Rechtsanwalt dafür, daß er ihm einen Rat gibt. Aber eine Krankenschwester wird dafür bezahlt, daß sie einen Patienten daran hindert, aus dem Fenster zu springen, wenn er
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