Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
von Fräulein Aden erkennen konnte. Die Inspektorin lag auf der Seite, das Gesicht zum Zimmer gekehrt.
Kurz entschlossen griff Susy nach dem Vorleger und zog ein wenig daran. Der Schaukelstuhl bewegte sich. Sie zog noch einmal stärker, und der Stuhl schaukelte heftiger.
Über Susys Kopf wurde ein Keuchen hörbar. Wieder zog sie an dem Bettvorleger. Der leere Stuhl schaukelte gespenstisch im Mondlicht.
Plötzlich ertönte ein gellendes Geschrei. Die nackten Füße von Fräulein Aden erschienen auf dem Fußboden und liefen fort. Die Tür wurde aufgerissen. Das Schreien entfernte sich. Wie ein schwarzer Schatten floh Susy in der entgegengesetzten Richtung durch den Korridor. Hinter ihr klappten Türen. Stimmen schwirrten durcheinander. Fräulein Adens Schreie gellten noch immer durchs Haus.
Susy rannte die Treppe hinunter und schloß die Seitenpforte auf. Kit und Connie fielen ihr steif vor Kälte in die Arme.
»Ich wußte, daß du kommen würdest«, flüsterte Connie.
Susy berichtete kurz und atemlos, was sich ereignet hatte. Die beiden preßten ihre Hand vor den Mund, um nicht in ein schallendes Gelächter auszubrechen.
Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis es wieder still im Haus geworden war. Erst dann wagten es die Mädchen, das schützende Dunkel neben der Seitenpforte zu verlassen und zu ihren Zimmern hinaufzuschleichen.
»Gute Nacht«, wisperte Susy vor ihrer Zimmertür. »Vielen Dank für den reizenden Abend.«
»Keine Ursache«, antwortete Kit. »Das Vergnügen war ganz auf unserer Seite.«
Nelli
Einige Tage lang schwirrten allerlei Gerüchte über das sonderbare Verhalten von Fräulein Aden durch das Krankenhaus. Die Hausärzte waren der Meinung, daß sie eine optische Täuschung erlitten hätte. Die Schwestern hielten es für einen Alptraum. Fräulein Aden lehnte beide Erklärungen entrüstet ab. Sie hätte nicht geschlafen, behauptete sie steif und fest. Sie hätte nicht nur gesehen, wie der Schaukelstuhl allein im Mondlicht schaukelte, sondern es auch gehört. Durch das Geräusch wäre sie überhaupt erst darauf aufmerksam geworden.
Kit, Connie und Susy beteiligten sich lebhaft an den Gesprächen über den merkwürdigen Vorfall. Kit hielt vor einer Gruppe von Schwestern einen eingehenden Vortrag. Sie vertrat die Theorie der optischen Täuschung und versuchte ihre Zuhörer davon zu überzeugen, daß Fräulein Aden anfangs sehr wohl das Opfer einer akustischen Täuschung gewesen sein könnte, die dann eine optische Täuschung zur Folge gehabt hätte.
Allmählich legte sich die Aufregung wieder. Susy wurde in das Ambulatorium versetzt und lernte dort so viel Neues und Interessantes, daß sie das nächtliche Erlebnis fast vergaß. Dachte sie doch noch einmal daran zurück, so erschien es ihr unwirklich wie ein Traum.
Aber ihre Unterredung mit Fräulein Matthes vergaß sie nicht. Die Geschichte mit der Teestube war nicht so schlimm. Fräulein Matthes hatte zu Susys Überraschung Verständnis dafür gezeigt. Und von Dr. Barry war ein sehr netter Brief gekommen, in dem er Susy versicherte, wie leid es ihm täte, daß sie wegen dieser Sache Schwierigkeiten gehabt hatte. Außerdem war er selber zu Fräulein Matthes gegangen und hatte ihr den Vorfall erklärt. Aber das hatte nichts mit Susys Leistungen zu tun. Es waren die Worte der Schulleiterin über ihre Arbeit, an die Susy immer wieder denken mußte.
>Wenn ich bald wieder Nachtdienst hätte!< dachte sie bei sich. >Ich möchte gern beweisen, daß ich etwas kann.< Zuerst hatte sie einen Schreck bekommen, als man sie zur chirurgischen Frauenklinik des Ambulatoriums schickte. Das Arbeitsfeld dort war ihr vollkommen fremd. Sie glaubte, die Schulleitung wollte sie mit dieser Versetzung prüfen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß in der chirurgischen Frauenklinik lediglich ein Wechsel der Schwestern fällig war. In das Ambulatorium kamen Kranke aus der Stadt zur kostenfreien Behandlung. Es war in einem vierstöckigen Gebäude untergebracht, das täglich Tausende von Patienten aufsuchten. Von neun Uhr morgens bis nachmittags um fünf wimmelte es in den breiten, weiß getünchten Gängen von den Bewohnern des Armenviertels.
Am ersten Tag ihres neuen Dienstes ging Susy morgens um neun von ihrer Station aus zum Ambulatorium. Eine ältere Schwester begleitete sie. Als sie hörte, daß Susy in der chirurgischen Frauenklinik arbeiten sollte, sagte sie: »Dort werden Sie genug zu tun haben. Aber wenn Sie Nelli gefallen, ist alles gut.«
»Wer ist
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