Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
auf. Es war, als wäre eine Schleuse aufgezogen worden. Ein schwarzer Strom von Menschen flutete ins Gebäude. Hinkend, abgezehrt, mit verbundenen Gliedern, füllten sie bald das erste Stockwerk. Von dort stieg die Flut weiter in das zweite Stockwerk hinauf, darauf in das dritte und schließlich in das vierte. Immer lauter wurde das Stimmengewirr und das Scharren unzähliger Füße, immer durchdringender der Geruch ungewaschener Körper.
Aufgeregte Männer verloren ihre Frauen und schrien laut nach ihnen. Kleine Kinder weinten. Junge Mädchen mit maskenhaft geschminkten Gesichtern stelzten auf hohen Absätzen an Susy vorbei. Junge Männer drängten sich rücksichtslos durch die Menge. Mütter liefen hinter kreischenden Kindern her. Alte Leute saßen stumpf und geduldig auf Bänken und warteten. Reinmachefrauen und Krankenpfleger liefen durcheinander. Krankenschwestern erschienen und verschwanden. Assistenzärzte eilten vorüber.
»Es ist ein Irrenhaus«, dachte Susy betäubt. Aber bald entdeckte sie, daß trotz dieses scheinbaren Wirrwarrs der Betrieb in dem großen Ambulatorium wie geölt lief. Hier wußte jeder genau, was er zu tun hatte, wann und wie er es machen mußte.
In der chirurgischen Frauenklinik waren fünf Chirurgen, zwei Assistenzärzte, zwei Schwestern, eine Sozialfürsorgerin, zwei Reinmachefrauen und ein Krankenpfleger tätig. Mit Nellis Hilfe füllte Susy bald den ihr zugewiesenen Platz aus. In den ersten Wochen überwachte die Alte sie, wie eine Mutter die ersten unsicheren Schritte ihres Kindes überwacht. Susy hatte gar keine Gelegenheit, etwas falsch zu machen.
Das war eine große Beruhigung für Susy. Sie gab sich Mühe, alles zu lernen, was sie in der Klinik lernen konnte, und das war nicht wenig. Es kamen Patienten mit Geschwüren, mit Karbunkeln, mit gebrochenen Fingern, mit gequetschten Zehen, mit erfrorenen Ohren, mit Splittern in den verschiedensten Teilen ihres Körpers, mit Geschwulsten, Furunkeln und Warzen, mit eingewachsenen Nägeln, mit Schnitt- und Brandwunden, mit gebrochenen Armen und zerbeulten Köpfen. Alle ohne Ausnahme wurden behandelt. Hier wurde
Susy mit Dingen bekannt, die kaum auf den Krankenstationen vorkamen, denen man aber außerhalb des Krankenhauses auf Schritt und Tritt begegnete. Bald hatte sie das Gefühl, tauglich und tüchtig zu sein.
Nelli schien überall zugleich zu sein. Susy beobachtete bewundernd, welch eine Menge Arbeit die kleine Frau bewältigte. Ihre Aufgabe bestand eigentlich darin, die Räume sauberzuhalten, Krankengeschichten herbeizubringen und allerlei Botengänge zu machen. Tatsächlich aber verrichteten die zweite Reinmachefrau und der Krankenpfleger diese Arbeiten unter der Peitsche von Nellis Zunge, ständig in Furcht und Schrecken vor ihr. Dafür überwachte Nelli die Klinik, während die Schwestern sich um die Patienten bemühten. Sie kontrollierte die Vorräte und meldete den Schwestern, wenn irgend etwas fehlte. Sie stellte die leeren Medizinflaschen für den Apothekerjungen zurecht. Sie nahm die Instrumente aus ihren Glaskästen und verwahrte sie wieder, wenn die Sprechstunde vorüber war.
Die Schwestern waren wie ihre Kinder, die sie liebte, schalt und erzog.
»Haben Sie die Sauerstoffbehälter geprüft?« hörte Susy sie eines Morgens Schwester Perkins fragen.
»Ich ...« stammelte Schwester Perkins. »Nein, Nelli, ich ...«
»Die Behälter müssen jeden Morgen geprüft werden. Das wissen Sie genau. Wollen Sie, daß die Aufsicht Ihnen eines auswischt? Gehen Sie sofort hin und machen Sie es gleich.«
Manchmal sagte sie mitten am Vormittag zu Susy: »Lassen Sie mich die Frau zu Ende verbinden, Kind. Ich habe im Dienstzimmer etwas Milch und ein paar Kekse zurechtgestellt. Gehen Sie was essen, bevor die anderen alles verschlingen, sonst können Sie nicht ordentlich arbeiten. Ein leerer Magen macht ungeschickte Hände.«
Zu den Assistenzärzten sprach Nelli fast immer in verweisendem Ton.
»Werfen Sie die Schere nicht auf den Boden! Ich habe alles gesehen. Schauen Sie sich einmal die Spitze an. Jetzt können Sie ohne Schere arbeiten.« Oder: »Gott behüte, Dr. Mellow! Wie können Sie den Eimer neben den Kindern stehenlassen? Der Kleine dort hat soeben etwas rausgenommen und es in den Mund gesteckt. Weiß der Himmel, was es war! Sie sollten sich schämen.«
»Aber Nelli ...«
»Was heißt hier >aber Nelli Tun Sie, was ich sage.«
Die Chirurgen behandelte Nelli scheinbar mit Respekt. Hinter diesem Respekt verbarg sie jedoch
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