Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
hier fortging.
Nelli hob ihren Kopf. Sie versuchte angestrengt, das Dunkel vor ihren Augen zu durchdringen, um einen Blick in Susys junges Gesicht zu tun und einen zweiten in den Raum, der ihr das Leben bedeutete.
»Nie wieder das Summen des Sterilisationsapparates zu hören!« flüsterte sie. »Morgens, wenn ...«
»Still, Nelli!« Susy schluckte.
Es kam keine Antwort.
Susy bog sich ein wenig zurück, legte die Hände auf Nellis Schultern und blickte in die verschleierten Augen.
»Nelli, was hat Dr. Evan nun wirklich gesagt?«
»Er sagte, wenn ich mich jetzt operieren lasse, werden meine Augen vielleicht wieder gut, vielleicht aber auch nicht. Es kann sein, daß ich für alle Zeiten blind werde.«
»Und wenn Sie nicht operiert werden?«
»Dann dauert es noch ungefähr ein Jahr. Oh, Schwester Barden, gönnen Sie mir dieses eine Jahr!«
»Nelli«, sagte Susy eindringlich. »Die Aussichten müssen gut sein, sonst würde Dr. Evan nicht auf einer Operation bestehen. Sie wissen, daß wir ohne Sie nicht auskommen können. Wäre es im Interesse der Klinik nicht besser, den Versuch zu wagen?«
Nelli stieß einen bangen Seufzer aus.
»Aber ein Jahr! Wenn ich nicht operiert werde, bleibt mir immer noch ein ganzes Jahr. Und ich weiß es - ich ahne es - die Operation wird nicht gelingen.« Sie begann wieder zu weinen. »Bitte, Schwester Barden, lassen Sie es nicht zu, daß man mir dieses Jahr wegnimmt.«
»Aber Nelli, Sie könnten durch die Operation noch viele Jahre
... «
»Nein, nein, ich will nicht!«
Sie machte sich von Susy los, drehte sich auf dem Absatz um und
- lief gegen eine Tür. Einen Augenblick stand sie reglos da, Susy den Rücken zugekehrt. »Jeder Mensch kann mal gegen eine Tür laufen!« rief sie eigensinnig.
Susy wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Diese Chirurgen! Es sah ihnen ähnlich, feige die Flucht zu ergreifen und sie mit Nelli allein zu lassen.
»Nelli«, sagte sie schließlich leise, »wollen Sie uns nach all den vielen Jahren enttäuschen? Wollen Sie die Klinik - und damit das Krankenhaus - treulos im Stich lassen? Dr. Evan wünscht, daß Sie sich operieren lassen, weil er glaubt, daß Sie dann noch viele Jahre hierbleiben können. Bitte weigern Sie sich nicht!«
Die Gestalt in der blauweiß gestreiften Tracht wandte sich um. Auf Nellis Stirn war von dem Zusammenstoß mit der Tür eine Beule zurückgeblieben. Susy ging zu der Alten hin und legte die Arme um sie.
»Bitte, Nelli! Wir brauchen Sie!«
Nellis Gesicht entspannte sich.
»Liebt ihr mich wirklich so sehr? Man sagt doch immer, niemand sei unersetzlich.«
»Sie sind unersetzlich, Nelli! Tun Sie es für die Klinik!«
Es entstand ein langes Schweigen. Der kupferne Sterilisationsapparat am Fenster entsandte einen Dampfstrahl in das stille, von der Sonne durchflutete Zimmer. Irgendwo summte eine unsichtbare Fliege.
Nellis Augen wurden feucht, und eine heiße Träne fiel auf Susys Hand.
»Wo werde ich morgen um diese Zeit sein?« sagte sie leise.
Susy hatte gewonnen.
»Das haben Sie fabelhaft gemacht, Schwester Barden«, sagte Dr. Evan erfreut.
»Aber Dr. Evan - wie sind die Aussichten?«
»Ungefähr fifty, fifty.«
Susy stöhnte leise. »Wenn die Operation mißlingt, habe ich Nelli ein Jahr ihres Lebens gestohlen.«
»Nein«, antwortete der Chirurg ernst. »Ich würde der Schuldige sein, denn ich habe darauf bestanden.«
Die Nachricht von Nellis Tragödie verbreitete sich mit Windeseile im ganzen Krankenhaus. In Haus Brewster wurde Susy mit Fragen bestürmt. Sie hatte gar nicht gewußt, wie bekannt Nelli war. Die Anteilnahme der Schwestern rührte sie. Die Operation sollte schon am nächsten Tag gemacht werden. Je näher die festgesetzte Zeit heranrückte, desto mehr wurde Susy von dem Gedanken an ein etwaiges Mißlingen geplagt. Sie konnte nicht schlafen, und alles, was sie aß, schmeckte ihr nach Sägespänen. Nelli hatte so sehr um das eine Jahr gebeten. Was würde nun aus ihr werden? Hatte Susy sie zu einem Leben in völliger Finsternis überredet, zu einem Leben des Stillsitzens und Umhertastens? Susy versuchte, sich dieses Leben vorzustellen, während sie mit offenen Augen in ihrem Bett lag. Sie sah Nelli vor sich sitzen - immerfort nur sitzen - Nelli, die sich fast niemals hinsetzte. Sie sah, wie die alten Hände unsicher umhertasteten, wie die Füße beim Gehen zögerten. Sie sah das lebhafte, bewegliche Gesicht den geduldigen Ausdruck der Blinden annehmen. Sie sah vor ihren eigenen Augen die Dunkelheit,
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