Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
zu sein«, sagte sie zu Schwester Perkins. »Sie stößt gegen Tische und Stühle, und wenn ein Gegenstand einmal nicht auf seinem gewöhnlichen Platz liegt, kann sie ihn nicht finden.«
»Sie kann noch immer einen Fleck von der Größe eines Stecknadelkopfes auf dem Sterilisationsapparat sehen. Aber Sie haben recht, etwas stimmt nicht mit ihren Augen. Ich weiß nicht, was es ist. Jedenfalls wird es alle Tage schlimmer. Wenn die Chirurgen es eines Tages bemerken, wird wohl endlich etwas geschehen.«
Susy erwiderte nichts darauf. Nach ein paar Tagen dachte sie nicht mehr an Nellis Augen, denn die Arbeit in der Klinik nahm immer mehr zu. In den ersten warmen Märztagen trafen ganze Scharen schlecht gekleideter Patienten ein, die in den Wintermonaten nicht zur Behandlung gekommen waren, weil sie Furcht hatten, sich dem eisigen Wind auszusetzen.
Eines Nachmittags, als die Sprechstunde schon vorüber war, legte Susy frisch gewaschene Handtücher in den Wäscheschrank. Plötzlich hörte sie ein lautes Stimmengewirr, in dem Nellis Stimme vorherrschte.
Nelli hatte kurz vorher einen Streit mit dem Mann gehabt, der den Fußboden einwachste. Susy dachte, daß der Kampf noch weiterginge und daß es sich vielleicht lohnte, zuzuhören. Sie lief durch den Korridor und blieb an der Tür zu dem großen Saal stehen. Ihren Augen bot sich ein unerwarteter Anblick.
Die winzige, blauweiß gekleidete Gestalt Nellis stand in der Mitte des Raumes, umgeben von Ärzten in weißen Kitteln, die ihr verlegen auf die Schulter klopften. Große Tränen rollten über Nellis Wangen.
»Nein, nein, nein!« rief sie. »Ich will mich nicht operieren lassen. Ich will nicht!«
»Was ist denn los?« fragte Susy.
Nelli wandte sich um und floh in ihre Arme.
»O Schwester Barden! Sie sagen, ich muß von hier fort. Sie sagen, ich muß operiert werden und blind sein.«
»Nicht doch, Nelli!« unterbrach sie Dr. Evan, der sich unbehaglich fühlte. »Sie sollen nur für eine Weile zur Augenstation gehen. Dann werden Ihre Augen bald wieder besser sein.«
»Sie wissen gar nicht, ob es besser werden wird. Das haben Sie doch selbst gesagt! Sie sagten nur, daß Hoffnung besteht. Und wenn es nun nicht besser wird? Dann darf ich nie wieder hierher zurückkommen. Ach, was soll ich dann anfangen?«
Die Stimme von Dr. Evan klingt ungewöhnlich rauh. »Wenn Sie sich nicht operieren lassen, werden Ihre Augen immer schlechter werden, Nelli. Sollte es nicht gut ausgehen, so werden wir für Sie sorgen, wir alle zusammen. Es wird Ihnen an nichts fehlen, solange Sie hier leben.«
Nelli richtete sich gerade auf. Sie beachtete es nicht, daß die Tränen ihr unaufhörlich übers Gesicht strömten.
»Ich will nicht, daß man für mich sorgt. Ich will hierbleiben. Die Klinik ist für mich das Leben. Ich will hierbleiben, ich will die Instrumente herauslegen und mich um euch alle kümmern.«
Sie klammerte sich an Susy fest. »Lassen Sie es nicht zu, daß man mich fortbringt, Schwester Barden! Bitte, bitte, lassen Sie es nicht zu! Mein Sterilisationsapparat wird Grünspan ansetzen, wenn ich nicht aufpasse. Die jungen Frauen von heute taugen nichts. Man muß dauernd hinter ihnen her sein. Und wer wird darauf achten, daß Jack frisches Wasser in seinen Aufwischeimer füllt?«
Sie verbarg ihr Gesicht schluchzend an Susys Brust.
Die Chirurgen schlichen einer nach dem anderen mit schuldbewußten Gesichtern davon und ließen Susy mit Nelli allein. Susy wußte wohl, warum sie fortgingen. Sie sollte Nelli dazu überreden, sich operieren zu lassen. Zärtlich hielt sie die kleine bebende Gestalt an sich gepreßt. Über Nellis weißen Haarschopf hinweg ließ sie ihre Augen durch den großen Raum schweifen. Diese Klinik, die für Susy nur eine Station auf ihrem Weg war, bedeutete für Nelli die ganze Welt. Nelli hatte es niemals nötig gehabt, Erleben und Erfüllen in der weiten Welt zu suchen. Sie hatte alles hier gefunden.
Viele Jahre lang waren ihre treuen Füße über diesen braunen Fußboden geeilt. Sie wären auch in vollkommener Finsternis weiter darüber gewandert. Ihre Hände, die im Dienst für das Krankenhaus alt und müde geworden waren, hätten den Sterilisationsapparat immer noch blitzblank gehalten. Nelli brauchte nicht zu sehen. Die Klinik war ihr ebenso vertraut wie ihr eigener Körper, ebenso vertraut wie ihr wertvollster Schatz, die schönen Instrumente, die in ihren Glasgehäusen glitzerten. Und nun verlangte ihr eigener Gott, die Pflicht, von ihr, daß sie von
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