Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
worden war. Sie beschäftigte sich einen Monat lang damit, verdrießliche Patienten mit ekelhaft riechenden Salben einzuschmieren. Obwohl die Arbeit interessant war, machte Susy sie nicht besonders gern. Die Patienten waren mißmutig und reizbar, und die Luft im Saal blieb trotz geöffneter Fenster und surrender Ventilatoren immer muffig. Susys beste Schürzen bekamen sonderbare Flecken, die nicht wieder herausgingen.
Auf Station 2 lernte sie eine ganz andere Welt kennen. Über die Hälfte der Patienten hatten von Geburt an Knochenmißbildungen.
Station 2 war durchaus kein trüber Abschnitt in dem Leben dieser Menschen. Hier fanden sie Abwechslung und Gesellschaft, hier wurden sie ermutigt. Solange sie zurückdenken konnten, waren sie Krüppel gewesen. Auf der Straße hatte man sie angestarrt. Man hatte sie bemitleidet oder über sie gelacht. Aber hier, in diesem hellen freundlichen Saal, waren alle gleich. Sie verloren ihre Scheu, bewunderten gegenseitig ihre Fortschritte und sprachen einander Mut zu. Sie neckten die Schwestern, machten Witze und lachten gern. Schmerzen ertrugen sie mit unendlicher Geduld, denn sie waren daran gewöhnt. Jeder von ihnen hoffte, das Krankenhaus eines Tages bedeutend gebessert oder vielleicht sogar vollkommen geheilt verlassen zu können. Sie waren heiter und gutmütig und ertrugen die Qual schwerer Gewichte oder unbequemer Gipsverbände ohne Murren.
Die Station bestand aus zwei großen Sälen - einem Männer- und einem Frauensaal -, zwischen denen ein Gang mit Einzelzimmern und einer Kinderstube lag. Der Operationsraum befand sich im Kellergeschoß. Die Stationsschwester, Schwester Reis, war groß und breit, hatte ein freundliches Gesicht und einen Rock, der hinten immer länger war als vorn. Sie leitete die Station schon sehr lange; es ging eine ruhige Sicherheit von ihr aus. Als Susy sich bei ihr zum Dienst meldete, wußte sie sofort, daß sie sich hier sehr wohl fühlen würde.
Sie bekam fünf männliche Patienten zugeteilt, half den anderen Schwestern jedoch auch gelegentlich in den Einzelzimmern. In einem lag eine Oberschwester. Susy las ihre Krankengeschichte mit einer Mischung von Entsetzen und Bewunderung. Schwester Philipps war privat angestellt gewesen. Ihre Patientin, ein junges Mädchen, das einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, schien nach einer Zeit wieder normal geworden zu sein und durfte zusammen mit Schwester Philipps lange Spaziergänge machen. Eines Tages, als die beiden durch eine Straße in der Nähe des Sanatoriums gingen, warf das junge Mädchen sich plötzlich vor einen Lastwagen. Schwester Philipps sprang ihr nach und riß sie noch im letzten Augenblick zurück, erhielt dabei jedoch einen heftigen Stoß von dem Lastwagen, so daß ihr Rückgrat verletzt wurde. Sie lag schon vier Monate auf Station 2.
»Sie ist wundervoll«, sagte Susy zu ihren Freundinnen. »Niemals wird sie ungeduldig, immer ist sie sanft und lieb. Ich begreife nicht, daß sie den Mut haben konnte .« Susy stockte und fuhr dann nachdenklich fort: »Man sagt, der Selbsterhaltungstrieb wäre der stärkste Instinkt des Menschen. Warum sprang sie dann nicht unwillkürlich von dem Wagen fort? Versteht ihr das?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Connie. »Wahrscheinlich ist das eine Frage der Erziehung. >Zuerst der Patient!< heißt es ja immer. Dieser Grundsatz muß einer Krankenschwester zur zweiten Natur werden, sonst würde sie in solchen Fällen immer zuerst an sich denken.«
Die Mädchen befanden sich auf dem Dach des Schwesternhauses und genossen die kühle Abendluft. Kit hatte sich in einer Hängematte ausgestreckt. Connie saß auf der Brüstung und schaute über die Stadt, und Susy hockte mit gekreuzten Beinen auf einer Decke.
»Ich glaube nicht, daß man das lernen kann«, sagte Kit.
»Man muß es in sich haben.«
»Woher willst du aber wissen, ob du es in dir hast?« fragte Susy.
»Das kann man nicht wissen, ehe nicht ein Ereignis eintritt, bei dem es sich erweist. Es ist entweder da, oder es ist nicht da. Wenn es da ist, bist du eine bessere Krankenschwester. Es kommt schon in kleinen Dingen zum Ausdruck, die gar nicht heroisch sind.«
»Glaubst du, daß man niemals eine vollkommene Krankenschwester werden kann, wenn man es nicht in sich hat?« fragte Connie.
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich.«
Susy wandte den Kopf, so daß der Wind ihr ins Gesicht blies. »Warum streben wir eigentlich danach, vollkommene Krankenschwestern zu sein?«
Kit grunzte. »Weiß ich?«
»Weil
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