Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
mühsam bekreuzigte sich die Italienerin. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Selbst in dem dämmrigen Licht sah Susy den Ausdruck einfältigen Glaubens auf dem dunkelhäutigen Gesicht. In den schwarzen Augen leuchtete ein Glanz auf, der Susy fast den Atem benahm.
Frau Riccis Rosenkranz mit dem winzigen Ebenholzkreuz lag unter dem Kopfkissen. Susy zog ihn hervor und ließ ihn in die zitternden Hände der Frau gleiten.
»Ave Maria ...«
Susy knipste das Licht aus. Dann schlich sie zum Fußende des Bettes, ergriff Sophie an der Hand, zog sie aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Im Zimmer herrschte heilige Stille. Susy wartete noch einen Augenblick. Dann sagte sie streng:
»Sophie! Ziehen Sie sofort den Operationskittel aus, und bringen Sie ihn ins Wäschezimmer zurück.«
»Ach, Schwester Barden!« rief Sophie verwundert. »Warum sind Sie so böse?«
»Sie hätten die arme Frau zu Tode erschrecken können. So etwas macht man nicht.«
Das Lachen verschwand aus Sophies Augen. Sie wurden rund und ängstlich. »Es war doch nur Spaß, Schwester Barden. Seien Sie mir bitte nicht böse.«
Nachdem sie Sophie ins Bett gebracht hatte, kehrte Susy zu Frau Ricci zurück und knipste die Nachtlampe wieder an. Das dunkelhäutige Gesicht sah ruhig und entspannt zu ihr auf. Die Frau war zu erschüttert, um irgend etwas sagen zu können. Aber als Susy ihr einen Eierpunsch brachte, schien sie erfreut zu sein. Susy drehte das Kopfkissen um und klopfte ihr verständnisvoll auf die Schulter.
Frau Ricci lächelte. »Sie gut«, stammelte sie.
Susy verließ die Station glücklich und zufrieden. Ihre Methode war also richtig - wenn auch ein »Wunder« nötig gewesen war, um es zu beweisen.
Am nächsten Tag herrschte auf der Station großes Erstaunen über die plötzliche Veränderung von Frau Ricci. Niemand konnte sich das erklären. Die Patienten meinten schließlich nach längerem Hin- und Herraten, daß sie nach dem vielen Schreien erschöpft sein müßte. Sophie beteiligte sich nicht an der Diskussion; und die Schwestern waren zu beschäftigt, um sich lange mit dem Wunder abzugeben. Sie nahmen die Veränderung dankbar hin.
Von nun an gab es keinen Ärger mehr mit Frau Ricci. Ruhig und glücklich lag sie den ganzen heißen August über in ihrem harten Gipsverband, während die Sonne erbarmungslos auf das Dach über ihr brannte. Sie wollte nur noch von Susy betreut werden. Außer diesem Wunsch hatte sie keinerlei Ansprüche und beklagte sich auch niemals.
Susy fühlte sich jetzt oft sehr müde. Die Arbeit auf Station 2 war schwer. Der Krankenpfleger konnte nicht überall zur gleichen Zeit sein, und obwohl es den Schwestern verboten war, Patienten zu heben, taten sie es doch oft. Die Hitze war zermürbend. Außerdem spürte Susy hin und wieder einen stechenden Schmerz in der Seite. Es hatte an einem Tag begonnen, an dem sie einen Patienten allein aus seinem Bett gehoben hatte.
Susy hatte gar nicht daran gedacht, daß sie nun beinahe ein Jahr lang in der Schwesternschule war. Eines Tages rief die Inspektorin sie zu sich.
»Ihre Ferien beginnen am 1. September, Schwester Barden.« Sie lächelte über Susys aufstrahlendes Gesicht. »Sie haben es auch nötig.
Sie sehen müde aus.«
Susy war taumelig vor Glück. Drei ganze Wochen zu Hause bei Vater, Mutter und Ted! Drei Wochen lang im Bett frühstücken und so lange aufbleiben, wie sie wollte!
Als sie ihr Zimmer betrat, fand sie Kit und Connie in derselben Verfassung vor. Connies Ferien begannen ebenfalls am 1. September, Kits eine Woche später.
Susy telegrafierte nach Hause. Von diesem Augenblick an war sie nicht mehr fähig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die letzten Tage verflogen in einem Wirrwarr von Kofferpacken und Träumen. Und dann verließ sie eines Mittags die Station, um nicht mehr zurückzukehren. Connie reiste am selben Tage ab. Kit brachte beide zur Bahn. Als Susys Zug sich in Bewegung setzte, sah sie, daß Kits Gesicht sich schmerzlich verzog. Nun, Kit würde nicht lange allein sein. Nach ein paar Tagen fuhr sie ebenfalls heim.
Susys Gedanken liefen dem Zug voraus zu den drei Menschen, die sie erwarteten.
Die vollkommene Krankenschwester
Während der ersten drei Tage daheim schlief Susy fast immer. Am ersten Abend hatte sie bis Mitternacht vom Krankenhaus erzählt. Die Eltern hatten interessiert zugehört, während der fünfzehnjährige Ted seine Bewunderung für die große Schwester hinter einem Grinsen zu verbergen gesucht hatte.
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