Susanne Barden 01 Hinaus ins Leben
ihre Hand, und sie brüllt dich an. Sie macht leidenschaftlich gern Szenen.«
»Dann weiß ich auch nicht, was man mit ihr machen soll.«
Die Schwestern auf der Station waren ebenfalls ratlos. Tag und Nacht schrie Frau Ricci in regelmäßigen Abständen: »Oh, Mamma mia! Mamma mia!«
Weder heiße Getränke, noch Morphium, noch zärtliche Fürsorge hatten die leiseste Wirkung.
»Schläft die Frau denn niemals?« fragte die kleine Frau Wenesky bitter. »Wir möchten doch wenigstens nachts unsere Ruhe haben.«
»In ein paar Tagen wird sie sich beruhigt haben«, erwiderte Susy ohne Überzeugung. »Sie hat Schmerzen nach der Operation«, fügte sie hinzu, obwohl das keineswegs stimmte.
»Ach so! Und hatte ich keine Schmerzen nach der Operation?
Aber Sophie hat keinen Lärm gemacht wie die Tiere im Zoo.«
»Nein, Sie waren sehr tapfer, Sophie.« Susy nickte der kleinen Frau mit dem sommersprossigen Gesicht freundlich zu. »Bald kommen Sie wieder nach Haus. Sie hinken ja kaum noch.«
Sophies rundes Gesicht schien noch runder zu werden. »Gewiß, Schwester Barden. Lieber Gott, hören Sie doch nur! Was ruft sie eigentlich immer?«
»Mamma mia!« schrie Frau Ricci.
»Das heißt >Mutter<«, erklärte Susy. »Der Dolmetscher sagt, die italienische Landbevölkerung nennt die Jungfrau Maria so. Frau Ricci ist katholisch.«
»Ruft sie um Hilfe? Man müßte ihr helfen, ein bißchen still zu sein. Vielleicht tue ich das eines Tages.«
»Nein, nein Sophie, Sie dürfen nicht in ihr Zimmer gehen«, sagte Susy bestimmt. Sie kannte Sophies Vorliebe für allerlei Streiche. Im Krankensaal erregte sie oft große Heiterkeit, aber mit Frau Ricci durfte man keine zweifelhaften Experimente machen.
Susy hatte an diesem Tag Zwischendienst. Ob es ihr vielleicht gelang, Frau Ricci zur Vernunft zu bringen, nachdem es im Saal still geworden war? Sie wollte es noch einmal mit Connies Methode der Teilnahme versuchen.
Während der Abendarbeiten gellte unaufhörlich das laute Jammern Frau Riccis durch die Räume. Die Italienerin hatte eine unerschöpfliche Energie und prächtige Lungen. Die anderen Patienten brummten, fluchten und schalten über die Ruhestörung, und in dem großen Saal entstand eine gereizte Stimmung.
Als alle Kranken versorgt waren, ging Susy zu Frau Ricci. Ein wenig zögernd trat sie in das kleine Zimmer. Das matte Licht einer Lampe fiel auf den gewaltigen Körper und die zerzausten Haare der Italienerin. Durch das Erscheinen eines Zuhörers angefeuert, holte Frau Ricci tief Luft und stieß einen gewaltigen Schrei aus.
Rasch ergriff Susy die verkrampften Hände von Frau Ricci und sprach ein paar beruhigende Worte. Einen Augenblick glaubte sie, Connie hätte recht gehabt. Frau Ricci umklammerte ihre Hand fest - dankbar, wie Susy zuerst dachte. Dann verzerrte sich ihr Gesicht, und sie erhob ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das nicht enden wollte. Susy wäre aus dem Zimmer gelaufen, wenn ihr das möglich gewesen wäre. Aber Frau Ricci preßte ihre Hand wie in einem Schraubstock zusammen. Reden nützte nichts. Durch diesen Tumult drang keine gewöhnliche Menschenstimme.
Susy stand hilflos da und rief innerlich Verwünschungen über Connies unschuldiges Haupt herab. Da ihre ganze Aufmerksamkeit auf Frau Ricci gerichtet war, entging ihr eine leise Bewegung an der halboffenen Tür. Sie bemerkte nicht, daß jemand ins Zimmer schlich. Plötzlich brach die Italienerin mitten im Schreien ab und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Fußende ihres Bettes.
Susy wandte sich um. Eine weiße, nonnenartig gekleidete Gestalt trat langsam ins Licht. Ihr Kopf war mit weißen Tüchern verhüllt, zwischen denen das Gesicht ein mattrosa Dreieck bildete. Im Zimmer war es zu dunkel, um die merkwürdige Erscheinung deutlich sehen zu können. Trotzdem erkannte Susy die kleine Frau Wenesky auf den ersten Blick. Sie war sehr ärgerlich. Hatte sie Sophie nicht ausdrücklich verboten, in Frau Riccis Zimmer zu gehen? Sophie hätte längst im Bett liegen müssen. Außerdem konnte sich Frau Ricci vor der gespenstischen Erscheinung erschrecken.
»Sie ...«, begann sie zornig. Aber Frau Riccis Stimme, die zu einem Flüstern herabgesunken war, unterbrach sie.
»Madre di Dio! E venuta!«
Susy verstand das. Für einen kurzen Augenblick sah auch sie in der weißen Gestalt, was Frau Ricci in ihr sah - nicht die kleine unverschämte Sophie Wenesky, sondern die Mutter Gottes.
Der krampfhafte Griff um Susys Hand ließ nach. Langsam und ein wenig
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