Susanne Barden 04 - Weite Wege
Sommergäste vergiften sich mit Sumach.«
»Und im Herbst?«
»Bäume.«
»Wieso Bäume?«
»Apfelernte, Liebling! Die Leute fallen von ihren Obstbäumen oder von der Leiter.« Er hielt den Wagen an. »Schau mal, dort liegt Harville!«
»O Gott, wie furchtbar!« rief Susy.
Das Dorf lag in einer Senke zwischen den Bergen und bestand aus zwanzig bis dreißig Häusern. Sie waren armselig und ungestrichen, und manche fielen fast auseinander, so daß sie überhaupt keinen Schutz mehr boten. In den Dächern gähnten große Löcher, die Mauern hatten breite Risse; zerbrochene Fensterscheiben waren mit Lumpen und Papier verstopft. Ringsum lagen zerbrochene Zäune, Autotrümmer, Blechkannen und verrostete Geräte. Der Ort bildete eine häßliche schwarze Beule in der weißen Schneelandschaft.
Susy war entsetzt. Sie hatte in den Slums von New York die elendesten menschlichen Behausungen gesehen. Aber dort konnten die Leute aus eigener Kraft die Verhältnisse nicht ändern. Hier hätte ein Kind mit einem Hammer und ein paar Blechstücken etwas ausrichten können. Auch gab es genug anderes Baumaterial. Auf den Berghängen wuchs Bauholz in Massen, und die Bachbetten waren voller Steine. Der Wald war vielleicht Privatbesitz, aber die Steine waren bestimmt frei zum Gebrauch. Susy war überzeugt, daß sogar sie sich mit dem vorhandenen Material eine Schutzhütte hätte bauen können.
»Warum sieht das Dorf so entsetzlich verkommen aus, Bill?« fragte sie fassungslos. »Die Leute haben es doch nicht nötig, in diesen Baracken zu hausen. Und es kann ihnen unmöglich gefallen.«
Bill blickte auf die eingesunkenen Dächer und die nackten Dachbalken, die daraus hervorstaken. »Nein, sie brauchten nicht so zu leben, und es gefällt ihnen nicht.«
»Aber warum tun sie denn nichts dagegen?«
»Sie haben keine Energie und keinen Unternehmungsgeist. Sie sind immer nur müde. Und wenn man müde ist, wird einem alles gleichgültig.«
»Aber hat denn keiner von ihnen Lebenskraft?«
»Doch, einige schon, aber die gehen so schnell wie möglich von hier fort. Es ist leicht für uns, die Leute lebensuntüchtig zu nennen und sie deshalb zu verwerfen. Wir haben diese Art Müdigkeit niemals kennengelernt. Wir kennen nicht die Hoffnungslosigkeit, die aus fortdauernden Mißerfolgen entspringt. Es ist furchtbar, wenn einem alles schiefgeht, und man weiß nicht warum.«
Susy sah ihn verstohlen von der Seite an. Das Schicksal von Har- ville schien ihm sehr nahe zu gehen. Sein Ton war fast bitter, als er davon sprach.
»Sie wollen sich nicht helfen lassen, weil ihnen alles aussichtslos erscheint«, fuhr er fort. »Sie glauben nicht, daß ihnen zu helfen ist. Daher lassen sie alles gehen, wie es geht, und wünschen nur, daß man sie in Ruhe läßt.«
»Ich verstehe. Es ist, als hätten sie so lange in einem Käfig gelebt, bis sie Arme und Beine nicht mehr gebrauchen können. Und dann kommt plötzlich jemand und sagt: Rafft euch zusammen und arbeitet, dann werdet ihr euch viel wohler fühlen.«
»Genauso ist es! Andere Menschen können schwer verstehen, daß es schon harte Arbeit für sie bedeutet, am Leben zu bleiben. Die staatlichen Schwestern haben Harville fast aufgegeben. Sie können nicht oft hinkommen, und wenn sie kommen, werden sie nur widerwillig empfangen. Ich hoffe, daß du mehr ausrichten kannst, da du ja in der Nähe bist. Es wird allerdings lange dauern - etwa zwei bis drei Jahre
- , bis sich ein Erfolg zeigt. Und dein erster Eindruck auf die Leute wird entscheidend sein.«
»Was kann ich denn tun?«
»Vorläufig kannst du dich nur bemühen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Darauf mußt du dann weiter aufbauen.«
Er trat auf den Gashebel, und sie fuhren ins Tal hinunter. Das Dorf hatte keine Wege. Die Häuser lagen planlos verstreut da, und die Straße wand sich aufs Geratewohl zwischen ihnen durch. Bill hielt vor einer windschiefen Hütte an und nahm Susys und seine Tasche aus dem Wagen.
»Erschrick nicht, wenn du Frau Leffert siehst«, sagte er. »Sie ist dreißig, sieht aber wie fünfzig aus.«
Der Pfad, der zur Haustür führte, war glatt, und Susy klammerte sich haltsuchend an Bills Arm. Sie fühlte sich unsicher und nervös, weil sie wußte, wieviel er von ihr erwartete. Ihr Mut sank noch mehr, als eine runzlige hohläugige Frau mit strähnigem Haar und ausdruckslosem Blick ihnen die Tür öffnete. Wortlos ließ sie die Besucher eintreten und nickte gleichgültig. Susy erkannte sogleich, daß sie es hier sehr schwer haben
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