Susanne Barden 04 - Weite Wege
glühend vor Aufregung, die schlanke Gestalt gespannt. Bill wollte sie nichts vormachen. Er sollte die beglückende Wahrheit sofort erfahren.
Langsam stieg er aus und schloß sorgfältig ein Fenster des Wagens. Auch dann ging er nicht gleich ins Haus, sondern blieb reglos in der Dämmerung des Schuppens stehen und starrte ins Tal hinunter. Susy hatte ihn anrufen wollen, aber etwas in seiner Haltung hielt sie davor zurück. Die frühe Winterdämmerung verwischte die Umrisse. Dennoch sah sie deutlich, daß seine Schultern müde herabhingen und daß er sich schwerfällig bewegte, als er endlich auf das Haus zuging.
Im nächsten Augenblick hatte er sie erspäht, raffte sich zusammen und eilte über den Schnee zu ihr hin. Als er in den Lichtschein trat, der durch die Haustür nach draußen fiel, lächelte er - ein frohes und ermutigendes Lächeln, das die Schatten unter seinen Augen Lügen strafte.
»Ich hab es geschafft!« rief Susy.
Er sah sie ungläubig an. »Ist das wirklich wahr?«
»Wenn du es nicht glaubst, kannst du mich ja nach Hause abschieben. Wollen Sie nicht hereinkommen, Dr. Barry, oder soll ich Ihnen alles hier draußen in der Kälte erzählen? Wir könnten auch zum Mount Washington hinauflaufen, wenn Ihnen das lieber ist. Ich .«
Er riß sie in seine Arme, zog sie in die Küche und wirbelte sie im Kreis herum, bis sie lachend in Annes Schoß landete.
»Susy!« rief Anne ganz erschrocken.
Bill beugte sich über die beiden. »Los - erzählt!«
Susy stand auf und musterte ihn verstohlen. Er sah schrecklich müde aus. Sicherlich hatte er einen schweren Tag gehabt. Seine Augen waren umschattet, und trotz der frohen Neuigkeit war er immer noch bleich. Die Blässe verschwand jedoch zusehends, je länger er Susy anblickte. Es war, als flößte ihre Lebendigkeit ihm neue Kraft ein.
»Setz dich erst mal hin!« sagte sie energisch.
Er zog den Mantel aus und ließ sich mit einem unbewußten Seufzer auf einen Stuhl fallen. Während Susy ihm mit allen dramatischen Einzelheiten ihre Erlebnisse erzählte, bemerkte sie, daß er sich von Zeit zu Zeit mit dem Mittelfinger der linken Hand über den Schnurrbart strich. Ihn mußte etwas beunruhigen, das war gewiß.
Nachdem Anne sie mit Bill allein gelassen hatte, kam es heraus. Man hatte ihn zu spät zu einem kleinen Kind gerufen. Und so war es bei einem Anfall von Keuchhusten erstickt und nicht mehr zu retten gewesen.
»Ich verstehe nicht, warum die Leute mich nicht früher gerufen haben«, sagte er kopfschüttelnd. »Sie gehören nun schon zwei Jahre lang zu meinen Patienten. Und als der älteste Junge sich vor kurzem den Arm gebrochen hatte, hab’ ich tadellose Arbeit geleistet. Aber ich hab’ das Gefühl, daß sie mich nicht rufen wollten - daß sie mir nicht trauten. Einen Beweis dafür habe ich nicht, es lag mehr in der Luft. Und das Kind - mußte sterben.«
»Und dann haben sie natürlich dir die Schuld zugeschoben«, sagte Susy, die Erfahrung in solchen Dingen hatte.
»Gewiß.«
Susy legte ihre Hand auf seinen Arm. »Es tut mir leid - sehr leid für dich.«
»Ich werde froh sein, wenn du mir bei der Arbeit helfen kannst.«
»Ich auch. Wann werde ich wohl anfangen können?«
Sie fing vier Tage darauf an. Die Zeit bis dahin war so sehr mit Ereignissen angefüllt, daß sie wie im Fluge verging. Am nächsten Tag fand die Versammlung des Farmklubs statt, an der Susy natürlich nicht teilnahm. Aber Anne nahm daran teil und erzählte nach ihrer Rückkehr, daß die Idee, eine Gemeindeschwester anzustellen, große Begeisterung hervorgerufen hatte. Manche Mitglieder hatten sich allerdings an Susys Gehalt gestoßen, aber schließlich war Frau Edgett doch Siegerin geblieben. Es wurde ein Schwesternausschuß mit Frau Edgett als Vorsitzende gewählt.
Am folgenden Tag telefonierte Frau Edgett mit dem Roten Kreuz. Man war dort sehr entgegenkommend und freundlich, sagte ihr jedoch, daß der Antrag auf einen Wagen und eine Ausrüstung den Instanzenweg gehen müsse, was mindestens zwei Wochen dauern werde.
Dann folgte eine Ausschußversammlung, die in einem Saal des Rathauses stattfand. Susy wurde dazu eingeladen. Sie sollte mit den Mitgliedern bekannt gemacht werden und ihnen etwas über ihre Arbeit in New York erzählen. Sie brauchte nicht viel zu erklären. Der staatliche Schwesterndienst war ja nach dem Muster der HenryStreet-Stiftung organisiert. Man kannte und würdigte die Tätigkeit der Schwestern.
Auch Bill war zu der Versammlung eingeladen und wurde zum
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