Susanne Barden 04 - Weite Wege
Aufregungen der Großstadt gewöhnt war, schien sich in dem fremden Ort recht verlassen zu fühlen. Manchmal wünschte Susy, sie hätte Marianna nicht gerade jetzt nach Springdale geholt. Ein paar Monate später hätte es viel besser gepaßt. Marianna beklagte sich nicht und sagte auf Befragen, daß sie in der Schule gut zurechtkomme, erzählte darüber hinaus aber nichts. Überhaupt war sie ungewöhnlich schweigsam. Susy bemerkte das wohl, hatte jedoch keine Kräfte übrig, um auch noch für Unterhaltung zu sorgen.
Jeden Tag opferte Susy ihre Mittagspause für Nachforschungen nach dem Bazillenträger. Sie wußte, daß es viel Zeit und Geduld kosten würde, den Zusammenhang der Vorfälle zu entwirren. Dennoch glaubte sie fest, daß es ihr gelingen werde. Auf den Fahrten von einem Patienten zum andern überdachte sie alles, was geschehen war, und allmählich schien sich aus scheinbaren Zufällen ein System herauszukristallisieren.
Da waren die rätselhaften Angriffe auf Bill, die zu der Zeit begonnen hatten, als die Großmutter und das Kind an Typhus erkrankt waren. Warum hatten sie gerade damals begonnen? Dann hatte jemand das Schimpfwort »Quacksalber« auf Bills Wagentür geschmiert, während Bill in dem Haus der beiden Kranken gewesen war. Dieser Jemand hatte versucht, Bill in schlechten Ruf zu bringen, ein sicheres Zeichen dafür, daß er sich vor ihm fürchtete. Kurz nach dem Auftreten von neuen Typhusfällen waren Bills Scheinwerferlampen zerschmettert worden - an sich eine sinnlose und feige Tat, die nicht viel zu sagen hatte, aber doch ein Zeichen dafür, aus welcher Richtung der Wind wehte. Sie richtete sich offenbar gegen den Arzt, denn Bill hatte ja festgestellt, daß die Leute an Typhus erkrankt waren. Und darin kam dieser wahnsinnige Versuch hinzu, ihn als Bazillenträger zu verdächtigen.
All das kann nur ein Mann getan haben, dachte Susy. Eine Frau würde nicht nachts draußen herumlaufen und Autolampen zerschlagen oder Reifen zerschneiden. Und dieser Mann konnte nicht dumm sein, sonst wäre es ihm kaum gelungen, so lange unentdeckt zu bleiben. Jeder Einwohner von Springdale war auf Typhus untersucht worden, und bei allen außer bei den Kranken selber war die Untersuchung negativ ausgefallen. Der Bazillenträger mußte also außerhalb des Ortes wohnen. Sein Brunnen mußte von Typhusbazillen wimmeln. Wenn er auch nur eine Tasse voll Wasser ausgoß, mußten die Bazillen in die benachbarten Quellen oder Bäche sickern. Aber sowohl Bill als auch Dr. Howard hatten bereits alle Brunnen, Quellen und Bäche im Umkreis von vielen Meilen untersucht und nichts gefunden.
Der Mann konnte kein Fremder sein, sonst wäre er längst aufgefallen. Er konnte kein durchwandernder Landstreicher sein, sonst hätte er nicht so viele Menschen anstecken können. Er mußte am Kirchenessen teilgenommen haben. Aber wie hatte er Großmutter und Kind und die schneeschippenden Männer angesteckt? Sie beschloß, ihre Nachforschungen bei den Masons - Großmutter und Kind - zu beginnen.
Eines Mittags kaufte sie etwas Eiskrem und fuhr zu dem kleinen Haus, in dem die beiden wohnten. Während ihre Patienten sich mit dem gierigen Hunger genesender Typhuskranker über das Eis hermachten, lenkte Susy das Gespräch auf die Zeit vor ihrer Krankheit.
»Ich weiß, daß man Sie schon oft genug danach gefragt hat«, sagte sie zu der alten Frau. »Aber vielleicht können Sie sich jetzt, da Sie gesund sind, besser an alles erinnern. Hat Ihr Sohn vielleicht damals einmal Besuch zum Essen gehabt?«
»Nein, Fräulein Barden, ganz bestimmt nicht. Wir haben sehr selten Besuch.«
»Oder hatten Sie vielleicht einen Handwerker im Hause, der bei Ihnen etwas gegessen oder getrunken hat?«
»Nein. Mein Sohn hat in diesem Winter nicht viel verdient und macht alles allein, wenn was zu reparieren ist.«
Von Frau Mason erfuhr Susy also nichts. Auch ihre Fragen an das kleine Mädchen brachten nichts Neues zutage. Frances aß ihr Mittagbrot in der Schule, nahm es jedoch stets von daheim mit. Sie hatte nichts von anderen Kindern gegessen, soweit sie sich erinnern konnte. Sie hatte der Großmutter nichts mitgebracht. Die einzige Nahrung der beiden, die nicht von der übrigen Familie geteilt wurde, war die Milch. Aber das half Susy auch nicht weiter, denn die Milch der Meierei war ja bereits untersucht worden, und die Fahrer waren junge gesunde Leute ohne einen einzigen Typhusbazillus. Dennoch wollte sie auch dieser Spur noch einmal nachgehen.
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