Susanne Barden 04 - Weite Wege
demselben Wasserkübel tranken.«
»Und habt ihr das getan?«
»Ja, fast immer - und das macht die Sache so schwierig.« Seine Stimme klang teilnehmend. »Sie müssen wissen« - plötzlich färbten sich seine Ohren rot - , »daß ich nichts darauf gebe, was die Leute über den Doktor reden.«
»Das ist nett, Ira. Sie haben sich immer als guter Freund erwiesen. Und wir brauchen Freunde.«
»Sie haben genug Freunde. Die Leute sind bloß plötzlich alle verrückt geworden. Aber das gibt sich wieder. Und gegen Sie sagt kein Mensch was.«
»Ich weiß. Aber es kann nicht mehr so weitergehen. Dr. Barry verdient jetzt nicht mal genug zum Leben.«
Ira zog den Kopf unter der Haube hervor und richtete sich auf. »Das ist wirklich schlimm! Wenn ich Ihnen doch nur irgendwie helfen könnte!«
»Sie könnten uns helfen, den Bazillenträger zu finden. Erinnern Sie sich denn an gar nichts Ungewöhnliches? Hat vielleicht mal jemand bei euch ausgeholfen und aus eurem Wasserkübel getrunken oder euch etwas von seinem Kaffee abgegeben?«
Ira schob seinen alten Filzhut aus der Stirn und dachte angestrengt nach. »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Es tut mir schrecklich leid, Fräulein Barden. Ein paar Männer haben nur zwei oder drei Tage mit uns zusammen gearbeitet, aber alle sind untersucht worden. Und man erinnert sich nicht an Kleinigkeiten, die so lange zurückliegen, wenn man nicht zufällig darauf gestoßen wird.«
»Sie haben recht.« Plötzlich lachte Susy. »Vielleicht gehen wir viel zu vernünftig bei unseren Nachforschungen vor. Vielleicht sollten wir nach jemand suchen, der Großmutter Mason, als Reisender verkleidet, heimlich den Hof macht. Dann kämen wir vielleicht darauf, daß eines Tages vor etwa einem Monat ein Mann, der wie Lot Phinney aussah, euren Vorarbeiter anflehte, ihn doch bitte, bitte wenigstens eine Stunde lang Schnee schippen zu lassen, weil er sonst vor Hunger und Durst sterben müßte.«
Ira verzog keine Miene. »Und dann würden wir entdecken, daß er als Frau Ventress verkleidet beim Kirchenessen war und allen Leuten Eiskrem gegeben hat.«
Susy lachte laut bei der Vorstellung, daß ein Mensch versuchen könnte, sich als die dicke Frau Ventress zu verkleiden. Ira stimmte in ihr Gelächter mit ein. Als sie davonfuhr, lachte sie immer noch. Sich mit Ira Prouty zu unterhalten, war doch zu lustig. Aber auch er kann mir in dieser Sache nicht helfen, dachte sie ernst werdend, so gern er es auch möchte.
Eine Spur?
Zwei Tage später machte sich Susy auf den Weg zu Frau Ventress. Sie fuhr bei Anne vorbei, um Marianna zu fragen, ob sie mitkommen wolle.
Als Anne den Wagen hörte, kam sie heraus. »Ich bin froh, daß du Marianna mitnehmen willst. Vielleicht kannst du sie ein bißchen aufmuntern. Die jungen Dinger in der Schule sollen ziemlich eklig zu ihr sein. Das wurmt sie wahrscheinlich, denn sie drückt sich wie ein begossener Pudel im Hause rum.«
Susy erschrak und spürte Gewissensbisse. »Ich hab mich leider in letzter Zeit nicht viel um sie kümmern können.«
Marianna aufzuheitern, war keine leichte Aufgabe. Sie beantwortete Susys Fragen nach der Schule einsilbig, und obwohl sie nicht gerade unliebenswürdig war, lag wieder der alte Trotz in ihren Augen. Susy machte sich ernste Sorgen, als sie das bemerkte. Aber im Augenblick konnte sie nichts weiter tun, denn schon befanden sie sich am Ende des Tales und sahen unterhalb des alten Dammes, der den See von Springdale eindämmte, das große Haus der Ventress auftauchen. Der See war noch zugefroren und sah wie ein großes schmales Laken aus. Nur in der Nähe des Damms waren ein paar offene Stellen sichtbar. Das Donnern des Wasserfalls wurde immer lauter, und Susy mußte ihre Stimme erheben, um sich verständlich zu machen. Ihr Versuch, ein Gespräch mit Marianna aufzunehmen, hatte eine unerwartete Wirkung.
»Wenn der Damm jemals bräche, würde es für Springdale schlimm werden«, bemerkte sie. »Er wurde 1870 erbaut und ...«
»Meinetwegen kann er brechen, wenn er will«, fuhr Marianna mit solcher Bitterkeit dazwischen, daß es Susy einen Stich gab.
»Warum denn, Marianna? Was ist denn heute mit dir los?«
Marianna atmete schwer. »Nichts ist mit mir los.« Dann fügte sie rasch hinzu: »Verzeih! Ich bin heute in miserabler Stimmung. Müssen wir hier nicht abbiegen?«
Susy wandte ihre Aufmerksamkeit der Straße zu, und es wurde nichts mehr gesprochen, bis der Wagen vor dem Haus von Frau Ventress hielt.
»Ich werde
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