Susanne Barden 04 - Weite Wege
wird, hängt man nicht mehr so sehr von anderen Menschen ab. Man lernt dann mehr auf eigenen Füßen stehen.«
»Findest du das gut?«
»Natürlich! Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Marianna nachdenklich. »Ich bin ja eigentlich nie so sehr von anderen Menschen abhängig gewesen - außer vielleicht von dir und Kit - ein bißchen wenigstens. Meistens war ich doch allein. Und ich hab mich auch sehr gut allein durchgeschlagen.«
»Ja - gewiß.« Susy dachte an die wilde schmuddlige Marianna, die in das kleine Haus in New York eingebrochen war; die sich so gut allein durchgeschlagen hatte, daß sie nachts in Torwegen schlief und am Tage in einer Bar Teller wusch.
Die beiden Mädchen überfiel ein Schweigen. Marianna starrte trotzig auf die Berge. Susy sah vor sich hin und dachte an Connie, an Kit; an das Kirchenessen und seine traurigen Folgen; an Bill, der gegen Gespenster ankämpfte; an den geheimnisvollen Bazillenträger.
Immer jedoch wenn der Gedanke an den Bazillenträger in Susys Kopf auftauchte, stürzte sie sich mit aller Macht auf ihn. So auch jetzt. Noch einmal durchdachte sie den ganzen Ablauf der Ereignisse und war gerade bei Ira Proutys Rolle in der Geschichte angelangt, als der Wagen vor Annes Haus hielt.
Anne begrüßte Susy mit einer Nachricht, die genau in ihre Gedankenreihe paßte. »Ira Prouty hat angerufen. Du möchtest bitte sofort zum Hotel Kahlschlag kommen, falls es dir möglich ist. Er kann jetzt nicht fort und hat dir etwas Wichtiges zu sagen.«
»Soso«, antwortete Susy zerstreut. Doch plötzlich fuhr sie auf. »I- ra Prouty? Donnerwetter! Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn!«
Das Ende der Jagd
Ira Prouty kniete an der Südseite des Hotels auf der aufgeweichten Erde. Im schmelzenden Schnee neben ihm stand ein Eimer mit Farbe, und sein flinker Pinsel verwandelte das schmutzige Grau eines Kellerfensters in strahlendes Weiß. Über ihm stand ein Fenster offen, das er bereits gestrichen hatte. Warme Zentralheizungsluft drängte zitternd daraus ins Freie.
Als Ira leichte Schritte hinter sich hörte, sprang er auf. Die grauen Augen in seinem schmalen wettergebräunten Gesicht leuchteten auf. »Ah, Fräulein Barden! Man hat Ihnen also bestellt, daß ich angerufen habe?«
»Ja.« Susy war atemlos vom Laufen. »Was ist los, Ira?«
Ira spähte durch das halbgeöffnete Parterrefenster. Nachdem er festgestellt hatte, daß der Raum dahinter leer war, wandte er sich zu Susy zurück. »Vielleicht hab ich was gefunden. Vielleicht ist es auch nichts. Aber Sie sagten, wenn mir irgend etwas einfallen sollte — Mir ist was eingefallen.«
»Was denn?«
»Wissen Sie noch, wie wir neulich über den Bazillenträger sprachen - und Sie sagten so zum Spaß, wir müßten uns nach jemand umsehn, der Großmutter Mason, als Reisender verkleidet, den Hof macht - oder jemand, der so gern mal eine Stunde Schnee schaufeln wollte, weil er so schrecklich hungrig und durstig war?«
Susy nickte. Sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, Ira zu drängen. Ihr Mantel wurde ihr plötzlich zu warm und zu schwer, und sie riß ihn ungeduldig auf.
»Es war sonderbar«, fuhr Ira fort. »Nachdem Sie fortgegangen waren, fing etwas in mir zu bohren an. Ich konnte nicht rauskriegen, was es war, sosehr ich mich auch bemühte. Das verflixte Ding quälte mich sogar noch in der Nacht, und ich kaute immerzu dran rum - wie so’n Wiederkäuer.« Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab.
Susy stand wie auf Kohlen. »Und dann?« platzte sie heraus.
»Es kommt ja schon! Ja, also heute morgen fiel es mir plötzlich ein. Ich kam darauf, weil Sie das mit der einen Stunde Arbeit gesagt hatten. Ich wußte die ganze Zeit, daß es irgendwie damit zu tun hat. Kennen Sie Jul Wherity?«
»Ich weiß nicht genau. Gehört hab ich schon von ihm. Ist er nicht
eine Art Landstreicher?«
»So ist es. Er wohnt in einer Hütte aus alten Benzinkanistern, ganz versteckt in den Bergen. Ungefähr vor drei Jahren kam er hierher. Ab und zu arbeitet er irgendwo im Dorf und verdient sich ein paar Dollar. Dann legt er sich in seine Hütte und trinkt Bier, bis das Geld zu Ende ist.«
»Aber was hat das .«
»Es kommt ja schon! Als Sie damals über die Schaufel fuhren, das war so um vier rum. Wir hatten nur noch eine Stunde bis Feierabend. Meine Hand tat etwas weh, und ich stand so da und dachte, ob ich nicht lieber nach Haus gehen sollte, da kam Jul Wherity daher. Er fragte, was mit meiner Hand sei. Ich erzählte es ihm, und da meinte er,
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