Susanne Barden 04 - Weite Wege
Springdale kann ich wöchentlich eine Versammlung des Mütterklubs abhalten, und die Frauen aus den anderen Dörfern haben keine Zeit herüberzukommen. Zum Farmklub können sie gehen, weil es in jedem Dorf eine Zweigstelle gibt und sie sich nur einmal im Monat versammeln. Ich kann unmöglich fünfmal in der Woche an fünf verschiedenen Orten Mütterversammlungen abhalten. Dazu müßte ich schon ein Flugzeug zur Verfügung haben.«
Marianna sammelte schweigend ihre Bücher zusammen und ging mit dem Ausdruck äußerster Langeweile nach oben. Susy und Bill wechselten einen verzweifelten Blick.
»Mach dir nichts draus!« sagte Bill tröstend. »Warte nur den Juni ab. Dann kannst du mit ihr über Land fahren. Hast du sie gefragt, ob sie gern mitkommt?«
»Ja. Sie sagte, sie hätte nichts dagegen.«
Im Juni war Marianna nicht zugänglicher als im Mai. Die bewaldeten Berge, die in einen blauen Schleier gehüllt dahinträumten, übten keinen Reiz auf sie aus, weil sie sich nach New Yorks Häusermeer sehnte. Das Donnern der Bergbäche und der frische Wasserduft, der über ihnen hing, bedeutete ihr nichts, verglichen mit der Untergrundbahn und dem Geruch von Kohlenoxydgas. Am zwanzigsten Juni wurde die Schule geschlossen, und sie begleitete Susy auf ihren Fahrten über Land, mit mürrischer Miene den fröhlichen Maxi auf dem Schoß haltend.
Zuerst fuhr Susy mit ihr nach Harville, um ihr die weitgesteckten Ziele der Fürsorgearbeit vor Augen zu führen. Hier konnte Marianna an einem Beispiel sehen, mit welchen Mißständen die Fürsorgeschwestern zu tun hatten - schlechte Unterkünfte, falsche Ernährung, Unwissenheit, mangelnde Hygiene, vernachlässigte Kinder.
Marianna war wohl ergriffen, aber nicht so, wie Susy gehofft hatte. »Diese Leute wirst du niemals ändern«, sagte sie bestimmt. »Sie finden dich fabelhaft, wollen aber gar nicht anders leben. Was hat deine ganze Mühe also für einen Sinn?«
Susy versuchte es ihr zu erklären. »Solche Dinge erfordern viel Zeit, Marianna. Ich bin schon ganz zufrieden, wenn sich in diesem Jahr der Zustand der Kinder bessert. Fräulein Mowbray wird dafür sorgen, daß die Kinderwohlfahrt sich ihrer annimmt, und ich versuche den Frauen etwas über Kindererziehung und richtige Ernährung beizubringen. Dir mögen meine Bemühungen sinnlos erscheinen, aber ich rechne bestimmt mit einem Erfolg. Weißt du, daß die Kinderwohlfahrt in New Hampshire in einem Jahr über fünftausend vernachlässigte Kinder untersucht und behandelt hat?«
Marianna zuckte nur die Achseln.
Susy sagte sich, daß auch Mariannas Bekehrung Zeit erfordere. Sie glaubte richtig zu handeln, wenn sie sie zu überreden versuchte, Krankenpflege zu erlernen. Es war das einzige, was sie einmal interessiert hatte. Und sie durfte nicht in die Slums von New York zurückkehren. Warum sollte sie keine gute Krankenschwester abgeben? Sie war intelligent und begabt, außerdem noch jung und bildungsfähig. Während ihrer Ausbildung würde sie lernen, sich selbst zu beherrschen. Ihre Teilnahmslosigkeit anderen Menschen gegenüber entsprang mehr ihrer Schüchternheit und einem Gefühl gesellschaftlicher Unzulänglichkeit als einem Mangel an Mitgefühl. Zäh und entschlossen verfolgte Susy ihr Ziel und hoffte, daß sie es irgendwie erreichen werde.
Im Juni kam auch Bills Bruder aus Europa zurück. In seiner kleinen Wohnung in Springdale konnte Bill ihn unmöglich unterbringen. Er fuhr nach Boston, um dort eine Unterkunft für ihn zu suchen. Eliot brauchte ja auch eine ärztliche Spezialbehandlung.
Während er fort war, hatten Susy und Marianna das Erlebnis mit dem Floß. Von einer einsam gelegenen Hütte in den Bergen war ärztliche Hilfe angefordert worden, weil sich jemand ein Bein gebrochen hatte. Susy versuchte Dr. Vinal zu erreichen, der Bill in Notfällen vertrat. Da er jedoch nirgends zu finden war, mußte sie selber helfen, so gut sie konnte. Kurz entschlossen packte sie Bandagen und
Schienen in den Wagen und fuhr los. Marianna und Maxi begleiteten sie. Die Straßen waren aufgeweicht, die Bäche über die Ufer getreten. Susy wußte nicht genau, wo die Hütte lag. Nachdem sie eine Weile umhergeirrt war, fragte sie einen Bauern nach dem Weg.
Er zeigte auf einen Pfad, der in ein bewaldetes Tal führte. »Ihren Wagen müssen Sie aber hier stehen lassen. Vor Martins Hütte liegt ein Teich, der ein wenig über die Ufer getreten ist.«
»Wie weit ist es noch bis zur Hütte?«
»Ungefähr ‘ne Meile.«
Die Mädchen
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