Susanne Barden 06 - Heiter bis bewölkt
die neu erworbene Kommode. »Sie fühlt sich so herrlich glatt an, Mammi! Und die süßen Blumen! Auch die Schubladengriffe sind ganz wunderschön.«
Die Griffe waren aus Messing und saßen an durchbrochenen Beschlägen. Susy konnte sich nicht umsehen, weil sie auf den Weg achten mußte. Als sie sich dem großen Ast näherten, sagte sie: »Setz dich hin, Tina, und halt dich gut fest!«
»Ja, Mammi.«
Susy hatte gemeint, Bettina solle sich auf den Boden des Wagens setzen. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sich das Mädchen als geeigneten Sitz für den kommenden Stoß die Kommode auswählen könnte. Die Vorderräder rollten ohne große Erschütterung über den Ast, aber obwohl Susy sehr langsam und vorsichtig fuhr, sprang der hintere Teil des Wagens heftig in die Höhe. Es gab einen Bums. Bettina schrie auf. »Mammi! ich bin hingefallen!«
Susy hielt an und sah sich um. Die Mittelschublade der Kommode stand offen. »Mein Bein!« rief Bettina wehklagend, während sie sich aufrichtete. Dann schrie sie entsetzt: »Es blutet, Mammi!«
Wirklich floß Blut aus Bettinas linkem Bein und bildete schnell einen kleinen See. Hastig kletterte Susy in den hinteren Teil des Wagens. Sobald sie das verletzte Bein sah, wurde ihr Schreck jedoch von praktischen Überlegungen verdrängt. Die zackige Wunde befand sich auf der inneren Seite dicht unterhalb des Knies. Eine Schlagader war nicht durchschnitten; das Blut spritzte nicht ruckweise, sondern floß gleichmäßig. Als Susy das Bein mit ihren Händen umklammerte, ließ das Bluten nach, bis es schließlich ganz aufhörte. Aber sie konnte das Bein nicht ständig halten und mußte eine Art Aderpresse herstellen.
»Hab’ keine Angst!« beruhigte sie Bettina, die sie mit großen erschrockenen Augen ansah. »Tut es sehr weh?«
»Nein. Aber das Blut!«
»Blut ist doch nichts Schlimmes! Außerdem hat es jetzt aufgehört zu bluten. Willst du mir helfen und tun, was ich dir sage?«
»Ja, Mammi.«
»Kriech mal ein bißchen weiter und lehn dich an die Wagenwand. Ja, so ist’s gut! Nun halte dein Bein, genauso wie ich es tue, mit beiden Händen fest.«
Bettina griff mit ihren dicken Händchen neben Susys Händen um das Bein.
»So ist’s fein! Nun drück zu, so fest du kannst. Ganz fest! Ich werde etwas suchen, was wir um das Bein binden können, damit du es nicht immer zu halten brauchst. Jetzt wollen wir mal sehen, wie es geht.«
Sie ließ das Bein los, und sofort fing das Blut wieder an zu fließen. Bettina wimmerte leise.
»Drück fester zu!« befahl Susy. »Ganz, ganz fest!«
Das Blut versiegte, und Bettina sah stolz zu ihrer Mutter auf.
»Fabelhaft!« sagte Susy. »Das hätte selbst Karla nicht besser machen können. Laß das Bein nicht los, auch wenn es wieder zu bluten anfängt!«
»Ja, Mammi.«
Susy überlegte rasch. Der Stoff von ihrem und von Bettinas Kleid war zu stark, als daß sie einen Streifen davon hätte abreißen können. Ein Gummischlauch befand sich nicht im Wagen. Ihr Taschentuch war zu klein und der Henkel ihrer Handtasche zu kurz.
Suchend blickte sie sich um, und plötzlich erhellte sich ihr Gesicht.
»Ich bin gleich wieder zurück, Tina!« Rasch kletterte sie aus dem Wagen, sprang über den Graben an der Wegseite und riß ein Büschel Gras von der Böschung ab. Dann drehte sie es und band es probeweise um ihren Knöchel. Ja, das Gras hielt! Nun brauchte sie nur noch einen Stock. Sie rannte zu dem großen Ast, brach einen Zweig ab und eilte zu Bettina zurück. »Halt noch einen Augenblick fest, Tina!« Sie band das Grasband um Bettinas Bein, steckte den Stock in den Knoten und drehte ihn.
»Das tut weh, Mammi!« schrie Bettina.
»Ich weiß, aber daran ist nichts zu ändern. Halt den Stock fest, damit er sich nicht zurückdreht.« Susy hob Bettina in den Vordersitz. »Nun sitz still und halt dein Bein schön gerade. Ich werde so schnell wie möglich nach Hause fahren und Pa anrufen.«
Der Wagen hopste vom Landweg auf die Straße. Susy trat auf den Gashebel, ein Auge auf Bettinas Bein gerichtet. Man würde die Wunde gründlich säubern und nähen müssen. Hoffentlich konnte Bettina die Graspresse halten, bis sie daheim waren. Das arme Ding weinte leise vor sich hin.
»Woran hast du dich eigentlich geschnitten, Tina?« fragte Susy.
»Ich weiß nicht, Mammi. Mein Bein tut weh. Dieses Grasding schnürt entsetzlich!«
»Ich kann es jetzt nicht abnehmen, Tina. Wir sind ja bald zu Hause. Denk daran, daß du eine Arzttochter bist. Nimm dich
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