Susanne Barden 06 - Heiter bis bewölkt
Susy sie behandelte, reichte ihr Gaze, Bandagen und Antiseptika oder half ihr beim Verbinden. Die Tätigkeit tat ihr gut; sie verlor ihre Hemmungen und blühte zusehends auf.
Indessen hatte Susy auch eigene Sorgen. Als Babys waren die Zwillinge stets gesund und munter gewesen und völlig in der Beschäftigung mit ihren Fingern, Zehen und Milchflaschen aufgegangen. Später hatten sie sich ebenso intensiv für Schaukeln, Dreiräder und Schokolade begeistert. Aber jetzt begann Jerry sich immer rätselhafter zu benehmen. Er war launisch und unruhig, und an einem Regentag führte er sich so sonderbar auf, daß Susy überhaupt nicht mehr klug aus ihm wurde.
In der Nacht hatte es geregnet und gestürmt, und die Bergstraße lag voller großer abgebrochener Äste, so daß Bill zu Fuß zum Krankenhaus gehen mußte. Da auch der Schulomnibus nicht fuhr, blieb Bettina zu Hause. Anne wachte morgens steif vor Rheumatismus auf. Susy verordnete ihr Bettruhe, schickte die Kinder zum Spielen in die Bodenkammer und begann zu bügeln.
Nach etwa zwanzig Minuten kam Jerry nach unten, spielte seine sämtlichen Schallplatten ein paarmal hintereinander ab und schlen- derte dann in die Küche. Trübselig sah er zu, wie die Regentropfen die Fensterscheibe hinunterliefen.
Susy sah vom Plättbrett auf und musterte die kleine schmächtige Gestalt. »Woran denkst du, Jerry«, fragte sie mitleidig.
»An den Regen.«
»Meinst du den Regen, der überall auf die Erde fällt, oder meinst du die silbernen Tropfen, die gegen die Fenster schlagen?«
»Ich weiß nicht.« Nachdem Jerry eine Weile schweigend aus dem Fenster gestarrt hatte, drehte er sich plötzlich um. »Mammi, macht Silber Musik?«
Susy, die schon oft ähnliche Fragen beantwortet hatte, stockte nur einen Augenblick. »Ja, Silber macht Musik. Ich werde es dir zeigen.«
Sie stellte das Plätteisen hin und ging, von dem neugierigen Jerry gefolgt, ins Eßzimmer. Dort zog sie eine Schublade der Anrichte auf, nahm eine silberne Gabel heraus und schlug damit gegen den Tisch. »Horch mal!« sagte sie, während sie Jerry die Gabel ans Ohr hielt.
Er lauschte entzückt. »Noch einmal, Mammi!«
Nachdem sie die Gabel noch einmal hatte erklingen lassen, riß er sie ihr aus der Hand. »Laß mich mal!«
Er schlug die Gabel ans Holz und lauschte hingerissen.
»Darf ich jetzt eine andere probieren?«
»Ja, du darfst«, sagte Susy nach kurzem Zögern.
»Aber nur die Gabeln machen Musik, die Löffel und die Messer nicht. Und schlag nicht zu stark auf.«
Froh, daß er eine Beschäftigung gefunden hatte, ging sie zu ihrem Plätteisen zurück. Eine Weile hörte sie ihn im Eßzimmer hantieren. Gerade hängte sie eine gebügelte Bluse über einen Stuhl, da kam er ganz aufgeregt in die Küche gerannt und fuchtelte mit einer zweizinkigen Gabel vor ihrem Gesicht herum. »Mammi, Mammi, dies ist die richtige!« rief er und schlug sie an den Abwaschtisch. Susy beugte
sich hinunter und horchte auf das silberne Klingen. »Es hört sich hübsch an«, sagte sie lächelnd.
Jerry aber beachtete sie gar nicht, sondern lief zum Fenster und stand eine Weile ganz still. Dann schlug er die Gabel auf das Fensterbrett und hielt sie ans Ohr. »Bing-bong!« sang er. »Bing-bong!«
»Ach, das ist ja die Kirchenglocke!« sagte Susy.
»Nein - ich bin die Kirchenglocke!« schrie er aufgebracht.
»Na gut! Deshalb brauchst du doch nicht so zu schreien.«
Er sah sie zerstreut an und ging ins Wohnzimmer. Susy hörte ihn in kurzen Abständen klopfen. Als das Trommeln der Regentropfen nach einer Weile nachließ, warf sie einen Blick aus dem Fenster, um zu sehen, ob die Kinder ins Freie gehen könnten. Aber der Himmel war noch immer grau verhangen, und es nieselte sacht. Ein wenig seufzend trug sie die gebügelte Wäsche nach oben, um sie fortzulegen. Auf der obersten Treppenstufe saß Jerry, zu einem kleinen Häufchen zusammengekauert, die zweizinkige Gabel krampfhaft in der Hand, und sah sie ganz verzweifelt an.
»Aber, Jerry, was hast du denn?« fragte sie erschrocken.
Er brach in Tränen aus. »Mammi, ich kann keinen Regen machen!«
Susy legte die Wäsche auf die Treppe und umarmte ihn. »Natürlich kannst du das nicht. Gott macht den Regen - nicht ein kleiner Junge wie du.«
»Aber ich will Regen machen!« schluchzte Jerry. »Ich will machen, daß er fällt - und alles. Aber es ist einfach nichts da.«
»Ich versteh’ dich nicht, Jerry. Was willst du eigentlich?«
»Ich weiß nicht.«
»Wenn du es nicht weißt,
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