Sweetgrass - das Herz der Erde
schaffe das nicht alleine.”
Er wusste, worauf sie hinauswollte, legte seine Hände auf das Geländer und stützte sich auf. “Mama June …”
“Warte.” Sie richtete sich auf. “In Ordnung, ich bin so weit. Stell deine Frage. Noch einmal.”
Ein winziges Lächeln umspielte seinen Mund, als er sie kerzengerade dastehen sah. Er tat wie befohlen und betonte jede Silbe seiner Frage. “Mama June, was willst du tun?”
Sie reckte das Kinn energisch nach vorn. “Ich will Preston hierher nach Hause holen. Ich will ihn hier in Sweetgrass pflegen, so lange, bis er wieder sprechen und selbst sagen kann, was passieren soll.” Sie machte eine Pause und holte Luft. “Und ich möchte, dass du hierbleibst.”
Er lachte leise. “Also, Ma’am,
wenn
du eine Frage schließlich beantwortest, dann
richtig.”
“Du hast danach gefragt.”
Morgan presste die Kiefer aufeinander und unterdrückte die Antwort, die ihm bereits auf der Zunge lag. Er hatte den ganzen Tag über diese Möglichkeit nachgedacht und nicht weniger mit der Entscheidung gerungen als Jakob mit dem Engel. Er wollte nicht bleiben. Jede Faser seines Körpers sagte ihm, dass er in seinen Wagen steigen und so schnell wie möglich zurück in die ruhige Einsamkeit der Berge von Montana fahren sollte. Doch dann sah er seine Mutter an, sah ihren Blick voller Erwartung, und seine Entscheidung fiel.
“Na gut, mein Engel”, sagte er mit ergebener Stimme. “Sieht aus, als hättest du diesmal gewonnen. Ich bleibe.”
“Danke, Morgan!”
Er lehnte sich wieder an die Säule. “Sag noch nicht Danke, Mama June. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir das hinkriegen werden. Es wird sicherlich nicht einfach werden. Du könntest es bereuen.”
“Bereuen, dass du nach Hause gekommen bist, um deinem Vater beizustehen? Bereuen, Preston nach Hause zu holen, damit er wieder gesund wird? Niemals!”
Er lachte leise über die Leidenschaft, mit der sie geantwortet hatte. “Na gut”, sagte er noch einmal und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, um den letzten Bourbon aus seinem Kopf zu vertreiben. “Jetzt, wo alles geregelt ist, habe ich mächtig Hunger.” Er klopfte auf seinen flachen Bauch. “Hast du was zu essen da?”
Sie lächelte bei dieser altgewohnten Frage, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. “Das ist Musik in meinen Ohren. Geh rein und wasch dich, ich mach dir in der Zwischenzeit etwas. Ich komme gleich nach.”
Sie sah ihm hinterher, als er hineinging, und hörte die Außentür leise klappern. Als sie allein war, drehte sie sich zur endlosen Dunkelheit hinter sich um und blickte zum Himmel. Die Sterne funkelten fast so hell wie die Hoffnung, die in ihren Augen erstrahlte.
In der Nacht suchte ein Sturm das Lowcountry heim und brachte gleißende Blitze und grollenden Donner, der die Balken erzittern ließ. Mama June wachte davon auf und blinzelte verschlafen, bis ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten. Wenn nicht gerade ein Blitz die Nacht erhellte, konnte sie nichts sehen. Doch sie hatte keine Angst. Seitdem sie in Sweetgrass lebte, hatten sie die kurzen Stürme, die vom Festland in Richtung See trieben, immer fasziniert.
Rastlos drehte sie sich auf den Rücken und legte ihre Hände auf die Brust, um die Sekunden zwischen Blitz und Donner zu zählen. Der Regen trommelte gegen die Fenster und aufs Dach, während sie noch einmal über ihre Entscheidung nachdachte, Preston nach Hause zu holen.
Das Trommeln der Regentropfen am Fenster wurde lauter und unterbrach ihre Gedanken. Mama June blickte zum Fenster hinüber. Mit einem Mal erstarrte sie, hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Etwas verschwommen Weißes schwebte vor dem Fenster. Mama June war sich sicher, dass da eine Figur im Nebel zu erkennen war. Ganz deutlich konnte sie die Umrisse einer Frau ausmachen, die eine Nachtmütze und ein langes altmodisches Kleid trug und sie direkt anschaute. Mama June spürte, wie sich die kleinen weichen Härchen an ihrem Körper aufrichteten.
Plötzlich ging ein Blitz nieder, hell und scharf, und der Donner war so laut und nah, dass Mama June sich erschrocken an den Hals griff und vor Angst erstarrte. Als sie wieder zum Fenster schaute, war die Erscheinung verschwunden.
Mama June setzte sich im Bett auf und schaltete mit zitternden Fingern die Nachttischlampe ein. Sofort erhellte ein wohltuendes Licht das Zimmer und bestätigte ihr, dass sie allein war. Nur die Vorhänge am leicht geöffneten Fenster flatterten im Wind. Sie
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