Sweetgrass - das Herz der Erde
sie zu einem ganz besonderen Ausflug mitgenommen – nur unter Mädchen. Sie wollten irgendwo an einem endlosen feinen Sandstrand baden gehen, shoppen und in einem Restaurant essen. Ihre Eltern fuhren häufig zum Grand Strand, wo sie kichernd wie Teenager den Nachmittag genossen. Aber dieser Tag war etwas ganz Besonderes gewesen. Sie hatte ihr neues gelbes Kleid aus gestärktem Leinen eingepackt, in dem sie sich wie eine Prinzessin fühlte, und die neuen Lederschuhe, die sie extra für diesen Ausflug bekommen hatte.
Ihre Mutter hatte in Charleston noch etwas zu erledigen gehabt, also fuhren sie anschließend über den Highway 17. Damals sah sie die vielen klapprigen Holzstände entlang der Straße zum ersten Mal. In ihrer kindlichen Vorstellung waren es heruntergekommene Wohnhäuser, und so taten ihr die armen Menschen leid, die in diesen Schachteln hausen mussten. Was hatte ihre Mutter darüber gelacht!
Ihre Mutter hatte mit dem großen roten Buick an einem der Stände angehalten, erinnerte sich Mama June, und es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Jung wie sie war, hatte sie sich ein bisschen gefürchtet, zu den beiden afroamerikanischen Frauen zu gehen, die vor der Hütte saßen, ihr freundlich zulächelten und Körbe flochten. Die Frauen waren sehr nett und zeigten ihr, wie sie die Palmblätter mit dem Sweetgrass verwoben und zu Körben verarbeiteten.
Mary June war vollkommen fasziniert. Sie beobachtete, wie die Frauen mit flinken starken Fingern das blassgelbe süßlich riechende Gras in Form brachten, und es kribbelte ihr in den eigenen Fingern. Impulsiv bettelte sie ihre Mutter um einen Korb an und erklärte, das sei ihr wichtiger als ein Ausflug an den Strand. Die Korbmacherinnen rollten mit den Augen und kicherten, als sie Mary Junes Bitte hörten. Weil es jedoch ihr Geburtstag war, durfte sie sich einen Korb aussuchen. Und diesen Korb besaß Mama June noch heute, und er hatte einen Ehrenplatz auf einem Regal im Esszimmer bekommen. Es war der erste von vielen Körben, die sie über die Jahre gesammelt hatte.
Mama June lächelte bei der Erinnerung an diesen Tag. Dann schüttelte sie den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Sie musste nicht mehr weit fahren, bis sie einen Stand ausmachte, an dem eine Reihe Körbe hingen, die weitaus kunstvoller gearbeitet waren als die Körbe, die an den meisten anderen Buden angeboten wurden. Mama June hielt am Straßenrand und machte den Motor aus, als plötzlich ein riesiger Truck vorbeidonnerte, der sogar ihren großen Wagen erzittern ließ.
“Himmel hilf”, murmelte sie und hielt sich am Lenkrad fest. Der aufgewirbelte Staub brachte sie zum Husten, und sie blickte vorsichtig über die Schulter, bevor sie die Tür öffnete, aus dem Wagen sprang und sich schnell in Sicherheit brachte.
Als sie sich dem Korbstand näherte, erkannte ihr geübtes Auge das gleichmäßige Muster der Körbe, die sorgfältig ausgewählten Sweetgrass-Blätter und wie gekonnt sich das goldene Sweetgrass und die kaffeebraunen Binsen abwechselten. Für sie waren diese Körbe von einer echten Könnerin gewoben worden.
Im Schatten einer riesigen Eiche saß eine Frau in einem einfachen braunen Rock und einer blau gemusterten Bluse. Die Hände der Frau unterbrachen ihre Tätigkeit, als sich ihr Gesicht erwartungsvoll hob. Sie hatte stahlgraues Haar, das in kurzen Locken um ihren Kopf stand, eine breite gerade Nase, ausdrucksvolle Wangenknochen und ein Gesicht wie gemeißelt. Sie hatte eine königliche Ausstrahlung, und man hätte sie fast für streng halten können, wären da nicht ihre Augen gewesen. Sie waren groß, tief und so ausdrucksstark, dass sie sich nie erklären musste, um ihre Meinung auszudrücken.
“Nona!”
Nonas Augen wurden groß, als sie Mama June erkannte, und sie hob ihre Hände. “Um Himmels willen! Mary June! Dich habe ich ja seit Wochen nicht mehr gesehen!”
“Ich weiß. Und was in der Zwischenzeit alles passiert ist!”, antwortete Mama June, kam näher und ergriff die starken braunen Hände. Als sich die beiden Frauen in die Augen sahen, zogen Erinnerungen gemeinsamer Erlebnisse durch ihre Köpfe, und sie hielten sich fest bei den Händen, als wollten sie diese gemeinsame Zeit beschwören.
“Was führt dich heute hierher?”, fragte Nona, ließ Mama June los und stemmte mit funkelnden Augen die Hände in die Hüfte. “Und erzähl mir nicht, dass du einen Korb kaufen willst!”
“Man kann nie genug Körbe aus Sweetgrass haben”,
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