Sweetgrass - das Herz der Erde
bestimmt ein Vermögen.”
“Wer weiß.” Sie zwinkerte verschwörerisch. “Wenn du dich heute gut benimmst, können wir noch mal darüber reden.”
“Hör mal, Tante Adele …”, begann Nan, die nicht wollte, dass ihre Söhne für gutes Benehmen eine Belohnung erwarteten.
“Wir sollten jetzt zu den anderen gehen, sonst wundern sie sich noch, wo wir bleiben”, unterbrach Adele und lotste die Familie gekonnt ins Wohnzimmer.
Sobald sie eintraten, gab es ein großes Hallo. Morgan sprang aus seinem Sessel und umarmte Nan, so fest er konnte. Die Zuneigung und die liebevollen Spötteleien zwischen Bruder und Schwester erfüllten den Raum.
Mama June verschränkte die Arme und beobachtete glücklich und zufrieden, wie freudig die Familie ihr Wiedersehen feierte. Hank ging an die Hausbar und mixte den Ladys Mimosas.
“Morgan, was trinkst du?”
“Bourbon mit Eis, danke.”
“Ein Mann nach meinem Geschmack.”
“Das klingt gut, Daddy, mir auch einen”, rief Harry vorlaut.
“Im Kühlschrank ist Cola”, erwiderte Mama June. “Bedien dich. Aber sag erst mal deinem Onkel Morgan Hallo.”
“Sie werden sich kaum noch an dich erinnern, Morgan”, bemerkte Adele. Mama June fand diesen Kommentar unhöflich, doch Morgan ging darüber hinweg und streckte mit einem schiefen Grinsen die Hand aus.
“Aber die Wildschweinjagd hast du ganz bestimmt nicht vergessen, oder?”, fragte er.
Harry, der ein leidenschaftlicher Jäger war, schüttelte sofort den Kopf und nahm bereitwillig Morgans Hand. “Nein, Sir!”
“Welche Wildschweinjagd?”, wollte Chas sofort wissen.
Harry begann eine ausschweifende Erzählung und erntete dafür brüllendes Gelächter von Hank und Morgan. Mama June hörte zu, fasziniert, dass ihr Enkel die Gabe zum Geschichtenerzählen ganz offenbar von seinem Blakely-Großvater geerbt hatte – genauso wie Prestons kehliges Lachen. Je älter sie wurde, desto wohler tat es ihr zu sehen, dass von Generation zu Generation bestimmte Begabungen und Eigenarten weitergegeben wurden. Sie seufzte leise. In dem Moment wurde sie auf Adele aufmerksam. Adele wanderte durch das Zimmer und musterte jedes Stück der Möbel aus der kolonialen Zeit, als würde es ihr gehören. Schließlich blieb sie vor dem ehrwürdigen Bücherschrank stehen, auf dem mehrere Stücke des Familiensilbers standen.
“Nein, das ist ja …” Sie griff nach einem Stück und zog ein kleines graviertes Silberschüsselchen hervor. “Ihr habt mein Porridgeschüsselchen gefunden!”
Mama June ging zu ihr. “Stimmt, nach all den Jahren haben wir es entdeckt, als wir die Möbel im Speisezimmer umgestellt haben. Es war zwischen Schrank und Wand eingeklemmt. Frag mich nicht, wie es da hingekommen ist.”
“Wahrscheinlich haben es Press oder Tripp da versteckt, um mich zu ärgern.” Adele blickte das frisch polierte Silberschüsselchen voller Zärtlichkeit an. “Ich dachte, ich würde es niemals wiedersehen.”
“Dann behalt es doch. Nimm es mit nach Hause”, bot Mama June an.
Adele schaute auf. “Wie nett von dir, mir mein eigenes Porridgeschälchen zu schenken”, sagte sie, und ihre Stimme troff vor Sarkasmus. Mama June horchte auf.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Morgan sich sofort umgedreht hatte, als er Adeles Worte hörte.
Obwohl Mama June protestierte, stellte Adele das Porridgeschälchen mit großer Geste zurück ins Regal.
Mama June konnte durchaus verstehen, dass es für ihre Schwägerin nicht leicht war, Gast zu sein in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war. Auch wenn sie es nie so deutlich gezeigt hatte wie eben, war zwischen den beiden Frauen immer klar gewesen, dass Mama June Sweetgrass vielleicht gehören mochte und sie dort lebte, aber dass sie nicht von Sweetgrass stammte und ihre Wurzeln woanders waren. Und diese Tatsache hatte Adele nie vergessen.
Ohne einen weiteren Kommentar lächelte Mama June und rief die Familie zu Tisch.
Mama June hatte ein reichhaltiges Mahl auf den Tisch gebracht und erntete dafür viel Lob und Anerkennung von der Familie. Sie strahlte, als sie beobachtete, wie ihre Enkel sich ein zweites Mal von dem Huhn in Madeirasauce nahmen, das sie nach einem alten Familienrezept gekocht hatte. Die Cocktails hatten die Zungen gelockert, und während des Essens unterhielten sich alle angeregt. Für einen Moment fühlte sie sich in die Zeit zurückversetzt, als solche Zusammenkünfte noch häufiger stattfanden. Morgan, der eigentlich kein großer Redner war, erzählte bereitwillig von seinem
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