Sweetgrass - das Herz der Erde
ihren Zopf und machte das Fenster weit auf. Als sie das Licht gelöscht hatte und im dunklen Zimmer zwischen ihren frischen weißen Laken lag, hörte sie von draußen das Summen der Insekten und das leise Rumpeln einer Holzjalousie an der Hauswand.
Was für ein wundervoller, merkwürdiger Abend, dachte sie. Sie fühlte sich wie nach einer Zeitreise. Als sie im Dunkeln lagund die feuchte Luft einer Südstaatennacht über ihre Haut strich, kam es Mama June beinahe so vor, als wäre sie wieder das neunzehnjährige Mädchen von damals, das sie sich in diesem Abend ins Gedächtnis zurückgerufen hatte.
Doch wer war dieses Mädchen?, überlegte sie. Sie fuhr mit ihrer Hand die Linien ihres Gesichts nach, als wäre sie eine Blinde. In der Finsternis des Zimmers betrachtete sie ihre Hände und dachte daran, wie sie sie kurz zuvor auf Prestons Brust gelegt hatte. Wer war dieser Junge?
In all den Jahren hatte sie ganz vergessen, wie bezaubert sie gewesen war, als sie Preston zum ersten Mal begegnet war. Unvorstellbar, dass sie diesen Moment vergessen hatte! Vor ihrem inneren Auge sah sie sein junges Gesicht wieder vor sich, hübsch, aber nachdenklich.
In diesen wunderbaren ersten beiden Wochen auf Sweetgrass war Preston so etwas wie der dritte Musketier geworden. Er fuhr das Boot, als Mary June und Adele abwechselnd auf dem Intracoastal Waterway Wasserski gefahren waren. Er war ihr Wanderführer durch unergründliche Wälder und beschützte sie vor Schlangen und Spinnen. Er begleitete sie zur Isle of Palms, wo sie faul in der Sonne lagen und sich gelegentlich in die Wellen stürzten. Und an endlosen faulen Abenden, wenn sie zu müde oder sonnenverbrannt waren, um noch ein Eis essen oder in Front Beach tanzen zu gehen, hatten sie auf der Veranda zusammengesessen und stundenlang Canasta, Whist oder Rommé gespielt.
In mancherlei Hinsicht war Preston wie der Bruder gewesen, den sie sich immer gewünscht hatte. Er war großherzig, beschützte sie und wusste manchmal beinahe alles. Dann wieder, vor allem wenn Mary June sich in schwülen Nächten in ihrem Bett wälzte, schien er ihr alles andere als brüderlich. Dann überlegte sie, ob sie wohl gerade dabei war, sich in diesen ruhigen, aber selbstbewussten Jungen zu verlieben.
Wenn sie jetzt zurückschaute, begriff Mama June, wie dumm sie damals gewesen war zu glauben, Preston wäre einfach nur ein netter Kumpel. Wäre sie älter, reifer und erfahrener gewesen, hätte sie früher erkannt, dass er sich vom ersten Moment an in sie verliebt hatte.
Aber seinerzeit war ihr das nicht klar gewesen. Sie war neunzehn, und für sie waren es aufregende Tage voller Flirts und Vergnügungen. Doch diese Zeit war jäh zu Ende, als sie nach den vereinbarten zwei Wochen in ihr Zuhause in Sumter zurückkehrte.
Adele hatte sie angefleht, sie möge wiederkommen, weil sie sonst vor Langeweile sterben müsste. Preston hatte Adeles Ansichten natürlich unterstützt, und so musste Mary June nicht zweimal gebeten werden. Vielleicht hätte die Geschichte eine andere Entwicklung genommen, wenn Mary June den Rest des Sommers zu Hause in Sumter verbracht hätte. Preston hätte ihr vielleicht geschrieben oder sie im College besucht.
Aber wie die Dinge lagen, kam kein Elternpaar gegen das an, was Adele sich in den Kopf gesetzt hatte. Also kehrte Mary June nach dem Unabhängigkeitstag wieder nach Sweetgrass zurück und verbrachte den restlichen Sommer dort.
Eigentlich hätte Mary June die Zeit auf Sweetgrass mit Adele und Preston genießen können – wie in den ersten beiden Wochen der Sommerferien.
Doch am Abend ihrer Rückkehr lernte Mary June Clark Hamlin Blakely III kennen – Tripp.
Und von da an änderte sich alles.
9. KAPITEL
“M it kindlicher Neugier habe ich meiner Mutter zugesehen, wie sie sie gemacht hat. Es ist eigentlich nichts Besonderes. Man beobachtet, wie die Eltern etwas tun, und nach einer Weile versucht man sich selbst daran. So ist das mit der Korbmacherei in den Familien. Man kommt einfach nicht daran vorbei.”
(Joseph Foreman, Korbmacher)
Es war eine von Morgans Angewohnheiten, früh aufzustehen. Er brauchte keinen Wecker. Meistens holte ihn noch vor Sonnenaufgang der Gesang der Purpurschwalben aus dem Schlaf.
Er stand gerne vor den anderen auf und ging hinaus in die friedliche Morgendämmerung. Er hatte so lange allein in Montana gelebt, dass es ungewohnt für ihn war, wieder so nahe mit anderen zusammenzuleben. In der Abgeschiedenheit seines Zuhauses in den Bergen hatte
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