Sweetgrass - das Herz der Erde
die ersten Sonnenstrahlen ihr direkt ins Gesicht schienen. Sie rieb sich die Augen und stützte sich auf den Ellbogen, um in das Bett neben ihrem zu schielen. Adele lag auf dem Bauch und schlief tief und fest. Mary June griff nach oben, zog den bunten Baumwollvorhang ein Stück zur Seite und schaute aus dem Fenster. Blassgelb und rosa ergoss sich das Licht der aufgehenden Sonne auf die Sümpfe. In diesen kostbaren Minuten, in denen die Sonne langsam aufstieg, bis sie hell am Himmel stand, fühlte sich die Luft noch frisch an und strich kühl über ihre Wangen. Purpurschwalben flogen in ihrem herrlichen Morgentanz am azurblauen Himmel hin und her. Mary June dachte, dass sie von diesen frühen, stillen Morgenstunden auf Sweetgrass nie würde genug bekommen können.
Sie schob ihre Decke zurück, stand auf und griff nach ihrem Morgenmantel. Mit den Händen suchte sie noch nach den Ärmeln, als sie bereits auf dem Weg über den Flur zu Prestons Zimmer war. Sie hielt die Luft an, als sie die Tür einen Spaltbreit öffnete – gerade so weit, um erkennen zu können, dass sein Bett leer war.
Er war beim Abendessen ungewöhnlich ruhig und einsilbig gewesen, und nach dem Essen war er nicht zum Kartenspielen oder Fernsehen unten geblieben. Sie schlich die Treppe hinunter und war ganz leise, als sie auf bloßen Füßen ein Zimmer nach dem anderen absuchte. Im Haus war es vollkommen ruhig. Sie konnte Preston nicht finden.
Mary June ging nach draußen auf die Veranda, setzte sich auf das geblümte Sitzkissen eines Weidenhockers, zog die Beine unter ihr Nachthemd und wickelte sich in ihren Morgenmantel ein wie in einen Kokon. Sie blickte über den Fluss, dachte nach und fühlte sich sehr verletzt.
Also ist Preston ganz allein zum Angeln rausgefahren, dachte sie, und der Gedanke tat weh. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er deshalb so böse war, weil sie und Adele in Blakely’s Bluff nicht auf ihn gewartet hatten. Das wäre wirklich kindisch – und gar nicht seine Art.
Nach einer Weile hörte sie Schritte auf der Verandatreppe und drehte sich um, um Preston mit beleidigter Miene zu empfangen.
Aber es war nicht Preston. Es war Tripp.
Sie konnte nicht anders, als sich verstohlen mit der Hand das Haar aus der Stirn zu streichen und sich aufrecht hinzusetzen. Er hatte sie längst gesehen. Sein Gesicht war blass von zu wenig Schlaf, und er grinste sie müde an. Sein Haar war noch unordentlicher als am Tag zuvor, und er trug dieselben Sachen, in denen er offensichtlich auch geschlafen hatte.
“Hast auf mich gewartet, was?”, fragte er, als er auf der Veranda stand.
“Nein! Ich meine …” Sie wurde rot, als sie merkte, dass er sie nur aufzog. “Ich war schon auf.”
“Frühaufsteher?”
“Ja, das bin ich tatsächlich.” Ihre Stimme klang übertrieben streng.
“Na, ich bestimmt nicht”, erwiderte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er streckte die Beine aus und machte es sich bequem, als wolle er auf der Stelle einschlafen. “Süße, ich bin hundemüde.”
“Warum gehst du dann nicht ins Bett?”
Er öffnete sein Auge einen Spaltbreit und lächelte. “Das ist die beste Einladung seit langem.”
“Bist du immer so unhöflich bei Frauen, die du kaum kennst?”
“Vor allem zu denen, die ich kaum kenne.”
Ich habe ihn richtig eingeschätzt, sagte sie sich und beschloss, ihn nicht zu mögen. Er war selbstgerecht und unangenehm.
“Ich habe dich erschreckt”, sagte er. “Tut mir leid. Ich bin müde, aber das ist keine Entschuldigung. Ich kann genauso unverschämt sein, wenn ich hellwach bin. Wenn du mich besser kennst, wirst du lernen, mich einfach zu ignorieren.”
“Nun, das spricht nicht gerade für dich.”
Er zuckte die Schultern. “Ich bezweifle, dass du hier allzu viele Komplimente über mich gehört hast.”
“Oh doch, das habe ich. Adele ist voll des Lobes.”
Sein unverschämtes Grinsen änderte sich, als der Namen seiner Schwester fiel. “Adele, ja … sie ist ein tolles Mädchen.” Er sah sie genauer an. “Und sie hat dich zur Freundin erwählt. Das sagt eine Menge über dich, würde ich behaupten. Wie heißt du noch mal? Mary irgendwas?”
“Mary June Clark.”
“Clark … Wie heißt dein Vater?”
“William Henry Clark. Meine Familie lebt seit Ewigkeiten in Sumter.” Sie merkte, dass er darüber nachdachte, ob die beiden Familien sich kannten, also fuhr sie fort: “Ich habe darüber schon mit deiner Mutter gesprochen, und ich glaube, unsere Familien hatten nie etwas
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