Symphonie der Herzen
aufgenommen«, keuchte er. »Und weg sind sie! Schnell wie der Wind. Die werden wir wohl erst Wiedersehen, wenn sie ihre Beute gefasst haben.«
»Dann lass sie«, entgegnete Lu, »und setz dich lieber hin.« Besorgt sah sie ihn an. »Du scheinst mir ein bisschen außer Atem zu sein.«
Jack aber reagierte schon gar nicht mehr, sondern starrte nur blicklos ins Leere. Er wirkte regelrecht orientierungslos. Einen knappen Atemzug später brach er auch schon zusammen.
Sofort eilte Lu zu ihm und kniete neben ihm nieder; ein Blick auf ihren Bruder genügte, und sie wusste, dass er wieder einmal einen seiner Anfälle hatte. »Jack! Jack!«, schrie sie und griff voller Panik nach einem spitzen Stein, der geradewegs unter seinem Schädel gelegen hatte. Im hohen Bogen schleuderte sie ihn von sich fort, als sie plötzlich hörte, wie jemand durch das Gebüsch gebrochen kam. Es war James Hamilton, doch kaum dass Louisa ihn sah, sprang sie auch schon auf und stellte sich schützend vor ihren großen Bruder. »Bitte geht wieder ...«, stammelte sie. »Jack hat ... ich denke, er würde nicht wollen, dass Ihr ihn so seht.«
Abercorn aber packte sie nur wortlos am Ellenbogen und schob sie behutsam beiseite, während Lu ihn noch mit einem flehenden Blick bat, sie und Jack wieder alleinzulassen.
»Schon gut, Louisa«, raunte James leise. »Ihr braucht Euch seinetwegen nicht zu schämen. Ich habe schon einmal gesehen, wie er einen dieser Anfälle hatte. Das war in Oxford gewesen.«
Dann ließ er sie wieder los, nahm einen Stock zur Hand und klemmte ihn zwischen Jacks Ober- und Unterkiefer, auf dass er sich nicht an seiner eigenen Zunge verschluckte.
Hilflos sah Louisa zu, wie ihr Bruder sich zuckend hin- und herwand und mit den Fersen auf den Boden trommelte, bis seine Glieder schließlich erschlafften und er ganz ruhig und friedlich liegen blieb. Sie seufzte erleichtert, als James ihn in eine sitzende Haltung emporzog. Zwei, drei Atemzüge später öffnete Jack auch schon wieder die Augen, spuckte den Stock aus und murmelte: »Tut mir leid ... Entschuldigt bitte.«
James aber ignorierte Jacks verlegenes Gestammel einfach und fragte: »Wie fühlst du dich denn?«
»Wie ein Idiot.«
Mit energischem Griff half James seinem Freund wieder auf die Füße. »Aber, Jack«, mahnte er ihn. »Vor mir brauchst du dich doch nicht zu schämen.«
Verunsichert griff Louisa nach dem Arm ihres Bruders. Es war ihr wahrlich unangenehm, dass der junge Abercorn nun wusste, dass ihr Bruder ein kleines Handicap hatte. Dennoch bedankte sie sich höflich und murmelte: »Vielen herzlichen Dank, dass Ihr ihm geholfen habt.«
»Nicht der Rede wert«, entgegnete James und wandte sich mit freundlichem Lächeln wieder seinem Studienkollegen zu: »Hast du es denn schon einmal mit Roter Betonie versucht?«
»Nein. Normalerweise nehme ich hinterher immer einen kräftigen Drink. Das entspannt mich wieder.«
Louisa dagegen war schon deutlich hellhöriger. »Soll Betonie denn gegen die Anfälle helfen? Und woher wisst Ihr das überhaupt?«
»Einer der Wildhüter auf meinem Anwesen in Irland hat die gleichen Beschwerden. Aber er nimmt dagegen regelmäßig den Sud der Roten Betonie ein, sodass die Krämpfe, wenn sie wieder auftreten, dann nicht mehr so kritisch sind.«
Natürlich wollte Lu ihrem Bruder gerne helfen. Andererseits ahnte sie bereits, dass er sich von ihr bestimmt nicht bemuttern lassen würde, und so wechselte sie rasch das Thema. »Die Greys und Hollands sind übrigens eingetroffen. Ich denke, ich sollte mal zu ihnen gehen und Guten Tag sagen. Ach, und viel Glück mit den Hunden. Wenn die einmal eine Fährte aufgenommen haben, dann kann es dauern, bis sie wieder zurückkehren.« Statt sich jedoch abermals zu den Eltern von George und Teddy zu gesellen, hatte Louisa natürlich etwas ganz anderes im Sinn: Sie wollte lieber in John Russells botanischen Fachbüchern nachschlagen, was sie dort vielleicht noch über die Rote Betonie herausfinden könnte.
Eilig strebte sie in die Bibliothek und erklomm die schmale Wendeltreppe hinauf zu der kleinen Galerie, auf der sich die besonders wertvollen Werke befanden. Dort zog sie ein Buch nach dem anderen aus den Regalen und schaute sich bewundernd die farbenprächtigen Illustrationen an - jede der angeblich Wunder wirkenden Pflanzen war gesondert aufgeführt und bildlich dargestellt, und Lu verlor sich geradezu in ihrer Betrachtung. Schließlich entdeckte sie eine antike Ausgabe von Culpeper’s Complete
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