Symphonie der Herzen
Vater und James Hamilton Freunde geworden waren. Sie bewunderten einander sehr, so viel war auf jeden Fall schon einmal klar. Abercorn wünscht sich bestimmt, dass Vater auch sein Vater wäre, dachte Lu und verzog das Gesicht zu einer übellaunigen Grimasse. Und sowieso überhäufen sie einander ja geradezu mit Komplimenten. Kein Wunder, dass Vater so begeistert von diesem Abercorn ist. Er hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, ihn als Sohn zu haben.
Mit einem Mal ertönte Mr Burkes sonore Stimme.
»Bitte entschuldigt, dass ich Euch unterbreche, aber Ihre Hoheit bat mich, Euch mitzuteilen, dass sie Euch zu sich in den Blauen Salon bitten lässt, wo sie gerade mit den Herrschaften Holland und Grey den Nachmittagstee einnimmt.«
»Man vermisst mich offenbar als Gastgeber«, schmunzelte John Russell. »Nun gut, Mr Burke, dann wollen wir sie nicht länger warten lassen. Geht ruhig schon einmal voraus.«
»Dürfte ich in der Zwischenzeit vielleicht einen kurzen Blick auf Eure Bücher werfen, Euer Hoheit?«
»Aber sicher doch, James, fühlt Euch ganz wie zu Hause. Es freut mich zu sehen, dass Ihr auch solch ein Büchernarr seid wie ich.«
Verdammt aber auch!, fluchte Louisa im Stillen. Das heißt dann wohl, dass ich jetzt den ganzen Nachmittag hier oben auf der Galerie ausharren muss. In einem ihrer Beine entwickelte sich bereits ein Wadenkrampf, und so verlagerte sie ihr Gewicht vorsichtig ein wenig, um ihr Bein ausstrecken zu können, was ihre Situation aber auch nicht wesentlich verbesserte. Und dann, eine knappe Minute später, hörte sie auch schon, wie James Hamilton langsam die Treppe heraufkam. Verzweifelt schaute sie sich nach einem möglichen
Fluchtweg um, als bereits sein dunkler Schopf über der obersten Treppenstufe erschien.
Als James Lu sah, stutzte er einen Moment und erklärte schließlich mit süffisantem Lächeln: »Dann hat mir mein Instinkt also doch den richtigen Weg gewiesen. Irgendetwas in der Art hatte ich mir nämlich schon gedacht.«
»Ich sitze hier bloß, weil ich einen Wadenkrampf hatte«, spie Lu ihm regelrecht entgegen, während sie vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre - hatte dieser dumme Hamilton sie doch tatsächlich beim Lauschen erwischt!
»Einen Wadenkrampf? Nun ja.« Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Wie Ihr meint. Lasst mich Euch trotzdem noch einen kleinen Tipp geben: Wenn Ihr das nächste Mal eine private Unterhaltung belauschen wollt, dann solltet Ihr ein weniger eindringliches Parfüm auflegen. Den süßlichen Jasminduft jedenfalls, den Ihr da gerade tragt, habe ich schon beim Eintreten in die Bibliothek wahrgenommen.« Mittlerweile war er oben auf der Galerie angelangt und schlenderte lässig auf Lu zu.
Ihr Puls raste. »Ich habe Euch ja nicht absichtlich belauscht. Ich war bloß hier hochgekommen, um mich einmal ein bisschen über diese sagenhafte Rote Betonie zu informieren.« Wütend schaute sie von ihrem Platz auf dem Galerieboden zu ihm auf, während James plötzlich das drängende Bedürfnis überkam, schützend die Arme um Lu zu legen. Sie wirkte so schutzlos, so arglos, wie sie dort auf dem Boden saß.
Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, und schweigend blickte Louisa für einen Augenblick auf seine raue Handfläche. Wie gerne hätte sie nun ihre Hand in die seine gelegt! Doch sie zögerte, hatte Angst, seiner magischen Ausstrahlung zu erliegen. Er hatte eine solch bezwingende und maskuline Aura, dass Louisa befürchtete, eine einzige Berührung könnte genügen, und schon würde sie ihm verfallen. Entschlossen drückte sie ihm einfach bloß das Buch in die Hand.
» Culpeper’s Complete Herbal«, las er in bewunderndem Tonfall. »Das ist aber ein wirklich rares Werk. Schreibt er denn auch etwas über die Rote Betonie?«
Anmutig erhob Louisa sich vom Boden. »Ja. Ich zeige es Euch.« Ohne seine Hand zu berühren, blätterte sie Seite um Seite um, bis sie schließlich bei der farbenprächtigen Illustration angelangt war, nach der sie gesucht hatte, und tippte einmal mit dem Finger darauf. Dann wich sie ganz bewusst wieder einen Schritt von James zurück; irgendwie sagte ihr Bauchgefühl ihr, dass sie dringend auf sicheren Abstand gehen sollte. Abercorn war einfach zu groß, zu muskulös, zu mysteriös, zu bezwingend - ach, und sowieso war er viel zu attraktiv. Gedanklich versuchte Louisa, sich mit einem imaginären Schutzschild ganz bewusst von ihm abzuschirmen.
»Wie es aussieht, steht
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