Symphonie des Lebens
Orchesterbegleitung unter, die Mehrzahl merkt es gar nicht … aber ich merke es. Und das ist schlimm. Von einem Solisten verlange ich hundertprozentige Reinheit im Spiel. Auch ein Menuhin kann einmal ausrutschen … aber er ist eben schon ›der Menuhin‹. Von einem Jean Leclerc, der erst einmal etwas werden möchte, verlangt man höchstmögliche Konzentration. Und das ist bei viermal Danebengreifen nicht da. Wir verstehen uns?«
»Ja.« Leclerc nickte. »Sie haben recht, Herr Generalmusikdirektor. Ich … ich gehe wieder zurück in meine dritte Reihe im Orchester. Vielleicht in einem Jahr –«
Donani erhob sich und klappte den Deckel über die Tasten. Es gab einen harten Knall.
»Vielleicht. Ich höre Sie mir gerne wieder an, wenn Sie noch einmal den Mut dazu haben.«
Er drehte sich um und ließ Leclerc auf dem Podium stehen. Da erst, als auch die Tür zuklappte, fand Leclerc die Kraft wieder, seine Glieder zu gebrauchen. Er warf die Geige auf den Boden und ballte beide Fäuste. Im Saal, ganz hinten, in einem weißen Kleid, mädchenhaft schmal und jung aussehend mit ihren offenen blonden Haaren, stand Carola.
»So ein Schuft!« schrie Leclerc. »So ein arroganter Flegel! Fertig hat er mich gemacht, einfach fertig! So behandelt man einen heulenden Hund! Hast du das gesehen?«
»Komm … laß uns gehen …«, sagte Carola leise. Die Leere des Saales trug ihre Stimme wie einen Hauch zu ihm.
»Jetzt bereue ich nichts mehr! Nichts!« Leclerc hob seine Geige auf. »Laß uns fortgehen, Chérie … irgendwohin … ich könnte ihn sonst erschlagen …«
»Komm –«
Carola kam zum Podium und nahm Leclercs Hand wie die eines weinenden Jungen.
»Wir werden einen Weg finden, ganz uns zu gehören«, sagte sie mit einer unheimlichen Sicherheit.
*
Eine Woche später waren sie wieder in Deutschland.
Donani gab Konzerte in Hamburg, Köln und München. Der Abschluß war Berlin. Tschaikowskij in der neuen Berliner Philharmonie. Carola aber erhielt dadurch die Möglichkeit, ihre Mutter zu besuchen. Sie hatte sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen – jetzt schien sie ihr die letzte Möglichkeit zu sein, Klarheit über sich selbst zu bekommen. Eine letzte Zuflucht vor der Flucht in das Ungewisse, in eine ersehnte und doch mit Angst betrachtete Freiheit.
Bertha Portz, Witwe eines Eisenbahnrates, wohnte in einem kleinen Einfamilienhaus im Grunewald. Von ihrem berühmten Schwiegersohn las sie ab und zu in den Zeitungen, noch seltener erhielt sie Post aus allen Winkeln der Erde, einmal im Jahr besuchte sie die Kinder in Starnberg, auf dem Weg zu ihrer Sommerfrische im Allgäu. Sie lebte das geruhsame Leben einer durch eine gute Pension gesicherten Witwe und betrachtete deshalb das Leben aus der Weisheit des Geborgenen heraus. Um so mehr war sie erschüttert, als ihre einzige Tochter Carola plötzlich vor ihr stand, weinend und völlig aufgelöst und ihr gestand: »Ich kann mit Bernd nicht mehr leben! Ich habe einen Geliebten! Was soll ich tun, Mama?«
Bertha Portz kochte zunächst eine Kanne starken Kaffee und verstärkte ihn in Carolas Tasse durch einen Schuß Kognak. Dann betrachtete sie ihre Tochter und wußte, daß sich Carola in einem Zustand befand, in dem man nie wieder reparierbare Dummheiten macht.
»Er ist jung?« fragte sie plötzlich. Carola sah erschrocken auf und nickte dann.
»Ja.«
»Bernd ist dir zu alt?«
»Ja, Mama.«
»Ich habe dir damals schon gesagt: Man kann einen Unterschied von einundzwanzig Jahren nicht wegwischen. Einmal mußte es so kommen. Bernd sehnt sich nach Pantoffeln und du nach Foxtrott.«
»So ähnlich, Mama. Was soll ich tun? Ich bin völlig verzweifelt.«
»Du hast deine beiden Kinder. Da gehörst du hin! Gib deinem Kavalier einen Tritt und weg damit. Bernd braucht dich, die Kinder brauchen dich … das ist deine Pflicht.«
»Alle, alle brauchen mich!« Carola sprang auf. »Alle reden von meiner Pflicht, allen muß ich etwas geben … und wer gibt mir etwas? Wo ist der, den ich brauche? Immer wird nur verlangt, aber nie etwas gegeben –«
»Das ist das Los der Frauen.« Bertha Portz goß die Tasse erneut voll Kaffee. »Setz dich, Carola. Sei vernünftig. Solange dein Vater lebte, war es bei mir genauso. Ich saß zu Hause, und dein Vater hatte Sitzungen, Stammtisch, Kegelabende, Verbindungsfeste, Alte-Herren-Treffen … Du ahnst gar nicht, wie ein Mann beschäftigt ist. Was habe ich getan? Ich habe mich damit abgefunden, habe meinen Kaffeekranz gehabt, meinen Damenkegelclub,
Weitere Kostenlose Bücher