T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
berühren, dann küsste sie ihre Fingerspitzen und strich damit über die raue Oberfläche.
»Ich vermisse dich«, flüsterte sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden.
Sie blickte über die Schulter zum Haus, doch hinter den Fenstern war nichts zu erkennen.
Wyatt hatte recht. Sie durfte so nicht weitermachen. Durfte nicht länger in der Vergangenheit leben. Ohne zu wissen, was mit ihrem Jungen passiert war.
Du musst herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Du selbst. Du weißt, dass du niemand anderem vertrauen kannst.
Sie richtete sich auf und blickte stirnrunzelnd auf den Anleger. Warum sah sie Noah immer nur
dort?
Er hatte nicht in der Nähe des Bootshauses gespielt, als er verschwunden war, trotzdem sah sie ihn in ihren Träumen oder Wachfantasien immer mit dem Rücken zu ihr am Rand der Pier stehen, so gefährlich nahe am Wasser.
Weshalb führten ihre Alpträume sie immer wieder dorthin?
Sie öffnete ein verrostetes Tor und spazierte auf das Gelände, auf dem sich der Stall, eine Scheune und andere Außengebäude befanden. Die Pferde und etwa fünfzig Rinder grasten auf der Weide, das Sonnenlicht brachte ihr zotteliges Fell zum Glänzen. Neugierig ließ Ava den Blick auf der Suche nach Dern umherschweifen, doch er war nirgendwo zu entdecken. Nachdem sie auch im Stall und in der Scheune nachgesehen hatte, stieg sie die Stufen zu seinem Apartment hinauf, doch es war abgeschlossen; niemand reagierte auf ihr Klopfen. Offenbar war Dern heute Morgen verschwunden, genau wie die anderen Bewohner von Neptune’s Gate. Schade, sie hätte gern mit ihm geredet, um mehr über den Menschen herauszufinden, der sie gestern aus dem Wasser gezogen hatte.
Vom Stall aus ging sie zur Vorderseite des Hauses und öffnete die Eingangstür. Und schon war sie nicht mehr allein. Virginia klapperte in der Speisekammer, über ihr war das Geräusch von Schritten zu vernehmen, dann das leise Surren von Jewel-Annes Rollstuhl.
Nein, sie war wahrhaftig nicht mehr allein.
Sie wusste nicht, wie ihr das gefiel.
Gut?
Oder eher gar nicht?
Sie schlenderte quer durch die Küche zu Virginia, die auf einer Trittleiter balancierte und die Dosen in der Speisekammer zurechtrückte, die größeren hinten, die kleineren vorn, die Etiketten sichtbar. Auch Pastaschachteln waren zu sehen, außerdem eine Vielzahl von Gewürzen, dazu Reis, Bohnen, Mehl und Zucker in eckigen Glasbehältern, alle sorgfältig beschriftet. Virginia warf einen Blick über die Schulter und fragte: »Haben Sie sich etwas zu essen genommen?« Sie stellte eine eingedellte Dose mit Hühnerbrühe richtig hin.
»Ich habe ein Stück von Ihrem Apfelkuchen stibitzt. Er ist lecker.«
»Das ist nicht gerade viel. Möchten Sie noch etwas?«
»Nein danke.«
Ein Stapel Thunfischdosen wurde perfekt ausgerichtet, dann schaute Virginia auf die Uhr. »Mittagessen gibt es in frühestens zwei Stunden.«
»Ich denke, das halte ich aus. Wo sind die anderen heute Morgen?«
Virginia schreckte fast unmerklich zusammen, die Thunfischdosen gerieten ins Wanken.
»Hallo!«, ertönte in dem Moment Wyatts Stimme aus dem Flur. Ava drehte sich um und sah, wie er auf sie zukam. Die Sorge, die sie gestern Abend auf seinem Gesicht bemerkt hatte, war verschwunden, es gelang ihm sogar, ein Lächeln zustande zu bringen. »Wie geht es dir?«
Sie zuckte die Achseln. »Nicht schlecht.«
»Gut.« Er hakte sich bei ihr unter und bemerkte: »Ich habe mir echte Sorgen gemacht.«
»Ich begehe schon keine Dummheiten.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Darauf zähle ich.« Trotzdem lagen Zweifel in seinem Blick. »Hast du Lust, in die Stadt zu fahren?«
»Mit dir?«
»Natürlich mit mir. Wir könnten dort zusammen zu Mittag essen.«
»Ich dachte, du musst arbeiten.«
»Ich fahre erst später am Nachmittag los, deshalb dachte ich, wir könnten die Insel zusammen verlassen, Lebensmittel einkaufen, einfach ein wenig bummeln.«
»Bummeln«, wiederholte sie.
»Ich weiß, ich weiß.« Er ließ ihren Arm los und hob abwehrend die Hand. »Das haben wir lange nicht gemacht, doch ich finde, es wird langsam Zeit« – er zuckte die Achseln, und sein Lächeln wurde breiter –, »dass wir uns einander wieder annähern.«
Sie zog ihn aus der Küche ein Stück den Flur hinunter ins Foyer, dann blickte sie sich prüfend um, um sicherzugehen, dass niemand zuhörte. Mit gesenkter Stimme fragte sie: »Und warum bist du dann letzte Nacht nicht ins Bett
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