Tabu: Thriller
nickte. Dann fasste sie sich ans Gesicht. Woher kannte er seinen Namen? Er wusste von Halvor. Er hatte ihn umgebracht! Er hatte Halvor umgebracht!
Er ging wieder zum Fenster. Wandte ihr den Rücken zu und blickte über das Tal.
Nicht Halvor …
Neben ihr auf der Spüle lag das Brotmesser.
Mein Bruder, mein geliebter großer Bruder, Halvor!
Sie starrte das Messer an. Starrte seinen Rücken an.
Sie könnte es schaffen. Wenn sie jetzt das Messer schnappte und sich auf ihn stürzte, hätte er keine Chance, sich umzudrehen. Sie könnte es schaffen! Sie hatte das Messer. Sie hatte die Oberhand.
»Hübsche Schafe«, sagte er entspannt.
Als er sich umdrehte, umspielte ein kühles Lächeln seine Lippen, spöttisch, wie das Lächeln eines Siegers. Er sah ihr in die Augen. Dann auf das Messer. Und lächelte erneut.
Verwirrung
Runar Vang wachte in aller Herrgottsfrühe auf.
Er war noch nie ein Langschläfer gewesen. Selbst an den Wochenenden war er Stunden vor den übrigen Nachbarn wach. Dann lief er durch die Wohnung und dachte über die Fälle nach, in denen er gerade ermittelte, ab und zu legte er eine Jazzplatte auf (so leise, dass die Musik kaum zu hören war) oder schlich zu Herdis ins Zimmer und atmete den Duft ihrer vom Schlaf warmen Haut und des verblassten Parfüms vom Vortag ein.
Er drehte den Kopf zur Seite. Am Vorabend hatte er beide Betthälften frisch bezogen und wie in einem magischen Ritual Herdis’ Bett gemacht. Trotzdem roch der Raum nach wie vor nach ihr. Er sah ihren Kopf auf dem Kissen, wie sie die Decke um sich feststeckte.
Bei ihrer Heirat war sie erst zwanzig gewesen. Praktisch noch ein Kind. Tat alles, worum er sie bat. Unterwarf sich. Ließ ihn bestimmen. Die ersten Jahre hatten ihr Zusammenleben geprägt.
Er hatte sich nicht großartig verändert. Sie dagegen schon. Nur dass er das nicht bemerkt hatte.
Er setzte sich im Bett auf. Es war halb sechs.
Mit einer steifen Bewegung – wann hatte er angefangen, so unbeweglich zu werden? – schwang er die Beine über die Bettkante, wo die Füße automatisch die Pantoffeln fanden.
Sie hatten sämtliche Häuser durchsucht, die in irgendeiner Form mit Rune Strøm in Verbindung gebracht werden konnten. Nichts. Keine Spur von Frøydis Vik. Keine Zelle. Nicht der kleinste Anhaltspunkt.
Wo mochte er sein Versteck haben?
Er war sicher, dass Frøydis Vik in Aquarius’ Gewalt war. Auch wenn er den Zeitungen etwas ganz anderes erzählte. »Noch ist alles offen.« »Nicht unwahrscheinlich, dass sie plötzlich auftaucht.« Die übliche Suada, auf die sich die Presseleute so gierig stürzten und die sie unkritisch über die Zeitungsseiten auskotzten.
Dabei war er sich sicher, dass Aquarius sie irgendwo versteckt hielt.
Nur wo?
Fast der gesamte Ermittlungsapparat arbeitete an dem Fall. Über hundert Leute! Sie hatten sämtliche öffentlichen Register durchforstet, alle seine Bekannten aufgesucht (ein schnell erledigter Job, da er kaum welche hatte), sie waren bei Rita Quist gewesen, sogar seine frühere Wohnung hatten sie aufgesucht, den Tatort in Ammerud.
Nichts. Nada!
Er schlurfte ins Bad, pinkelte, setzte Kaffee auf, schaltete das Radio ein, rasierte sich und zog sich an.
Es machte ihm Sorge, dass er sich mit der Rune-Strøm-Spur so geirrt hatte. Niemals zuvor hatte seine Intuition ihn derart im Stich gelassen. Er hatte sich mehr als einmal gefragt, ob sie Frøydis Vik gefunden hätten, wenn er Strøm eher hätte festnehmen lassen. Ein sinnloser Gedanke, der sich aber hartnäckig in seinem Kopf eingenistet hatte.
Auf der Küchenuhr war es zehn vor sieben. Plötzlich wurde die Zeit doch wieder knapp. Normalerweise war er der Erste im Büro. Er mochte es, das Licht einzuschalten, die Kaffeemaschine anzuwerfen und zu hören, wie seine Leute eintrudelten.
Er dachte an Kristin Bye. Eine hübsche Frau. Während der Ermittlungen hatte er nicht weiter darüber nachgedacht. Aber jetzt, da das Ganze vorbei war, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Mit Verliebtheit hatte das nichts zu tun. Sie war einfach nur verdammt hübsch.
Hotel California
I
Das Tragegestell des Rucksacks drückte gegen ihre Hüfte, als sie den Pfad hinunterliefen. Es war noch früh. Das Gras war bereift und nass und die Steine glitschig. Sie ging ein paar Schritte vor ihm. Hörte seinen Atem und das Quietschen der Sohlen seiner Sportschuhe, sobald er den Fuß aufsetzte.
Die Morgensonne war grell, aber fern und kalt. Das Sonnenlicht wurde von den Tautropfen zerstreut. Sie
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