Tabu: Thriller
kommst.«
Ein paar Stunden später kam die Schlange persönlich.
Er hatte sich seinen Namen redlich verdient. Er war gerissen. Und er verstand, wieso Gunnar abgelehnt hatte.
»Wir brauchen einen direkten Zugang zu Kristin Bye«, sagte er. Ohne Umschweife. Er war wenigstens ehrlich. Das schätzte Gunnar an ihm. Aber auch seine Ehrlichkeit war ein Teil seiner Taktik. Die Schlange rechnete damit, dass Gunnar bei einer so direkten Aufforderung nur nachgeben konnte.
Trotzdem war er bei seinem Nein geblieben. Mit der Begründung, noch nie eine Freundschaft missbraucht zu haben. Und weil er ums Verrecken nicht vorhabe, sich zum Liaisonoffizier machen zu lassen. Oder zur Telefonzentrale der Aquarius-Gruppe. Wenn Kristin mit ihm reden wollte, sollte sie sicher sein können, mit einem Freund zu reden und nicht mit einem Stenografen vom Dagbladet .
Die Schlange verstand. Zumindest sagte er das. Doch wahrscheinlich entsprach es tatsächlich der Wahrheit. Auch wenn er liebend gern ein Dutzend Kristin-Bye-Exklusiv-Storys im Dagbladet gesehen hätte. Gunnar war wohl der Einzige bei der Zeitung, der es wagte, der Schlange etwas abzuschlagen.
Er verbrachte den Abend im Büro, da er bis zu seiner Pensionierung noch all die alten Unterlagen aufräumen wollte. Eine beachtliche Aufgabe. Er fand vergilbte Briefe und Dokumente, Artikelentwürfe, anonyme Hinweise, denen er irgendwann mal hatte nachgehen wollen (obwohl er wusste, dass »irgendwann mal« in der Praxis »nie« bedeutete), Kopien ausländischer Reportagen, die er irgendwann noch einmal aus einem norwegischen Blickwinkel schreiben wollte.
Alles wanderte ins Altpapier.
Um halb sieben begab er sich in die Redaktionszentrale, um sich die Nachrichten anzusehen. Polizeidirektor Runar Vang wurde zum fünftausendsten Mal interviewt. Im Hintergrund, etwas unscharf, war Oscar Lund zu erkennen.
Du gerissener Fuchs, dachte Gunnar verblüfft. Oscar hatte sich vor fünf Jahren verabschiedet, und mit ihm war einer von Gunnars treuesten Informationsquellen bei der Polizei verschwunden. Lund war ein anständiger, altmodischer Polizist gewesen, der sich von ganz unten hochgedient und es bis zum Polizeichef des Dezernats für Gewaltverbrechen gebracht hatte. »König der Kriminalabteilung«, wurde er genannt, nicht nur von der Presse, sondern auch von den Kriminellen.
Besonders in den Achtzigerjahren hatten Gunnar und Oscar häufig Kontakt. So häufig, das sich daraus eine zurückhaltende Freundschaft entwickelte. Sie hatten einige Angeltouren zusammen unternommen, und als Oscars Frau einen Hirnschlag erlitt und bald darauf starb, hatten sie einen zweiwöchigen Fußmarsch in den Bergen gemacht. Sie waren nie wirklich enge Freunde geworden (dazu waren beide zu eigen), aber sie mochten und respektierten einander. Als Oscar in Pension ging, hatten sie versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, aber die Treffen waren immer seltener geworden. Inzwischen lag ihre letzte Begegnung sicher zwei Jahre zurück.
Als Gunnar in der Telefonzentrale der Polizei anrief, bekam er die Auskunft, in der Osloer Polizeibehörde sei kein Oscar Lund bekannt. Wenn du das gehört hättest, Oscar! Er bat, mit dem Aquarius-Raum verbunden zu werden, wo der Telefondienst erklärte, er habe Oscar vor einiger Zeit gesehen, könne aber nicht sagen, wo er sich jetzt aufhielt. Gunnar wählte seine private Nummer, wo er sich mit einem kurzen Bellen meldete: »Lund!«
»Das kannst du dir natürlich nicht entgehen lassen«, sagte Gunnar, ohne seinen Namen zu nennen. »Ein brisanter Kriminalfall, und du bist zur Stelle wie ein liebestoller alter Köter!«
Oscar erkannte die Stimme und knüpfte ohne zu zögern an den freundschaftlichen Ton zwischen ihnen an. »Jesses, du bist das?! Dann gibt es doch ein Leben nach dem Tod? Ich dachte, in kleingeistigen Zeiten wie unseren würden solche verstaubten Mumien wie du auf Eis gelegt?«
»In einem Monat trete ich ab. Und im Gegensatz zu dir habe ich nicht vor, als Geist durch die heiligen Hallen der Redaktion zu schweben.«
Oscar lachte sein charakteristisches, brummendes Lachen. »Ach, weißt du, es zuckt noch in dem alten Wrack, wenn es was Spannendes wittert.«
»Ich hab dich im Fernsehen gesehen. Du schiebst dich ja gern in den Vordergrund. Ermittelst du in dem Fall? Oder war das bloß dein Geist?«
»Ich helfe, so gut ich kann. Ehrenamtlich. Ohne Titel. Du weißt, wie das ist: Ich komme und gehe, wann ich will, und kümmere mich um meinen Kram.«
»Mit anderen Worten:
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